Das Gantrischgebiet ist ein Drachennest

Das Gantrischgebiet ist ein Drachennest

Andreas Sommer ist Sagenexperte und stammt selbst aus Niederscherli. Gefragt nach Üechtland-Drachenmythen, braucht er nicht lange nachzudenken. Ganze drei Geschichten handeln von diesem vielschichtig-urzeitlichen Tier. Alle zeigen sie, wie sich das Bild auf dieses je nach Epoche verändert hat.

Drachen: Für die Jungsteinzeit-Jäger und das Keltenvolk der Helvetier waren die Fabelwesen Geschöpfe mit ungeheuren Naturgewalten und grosser Macht. Wenn sie wollten, richteten sie Zerstörungen an. Andererseits konnten sie uraltes Wissen, Weisheiten und Überlieferungen preisgeben. Mit der Abkehr vom heidnischen Glaubenssystem und dessen Ablösung durch das Christentum wurden die mysteriösen Wesen dann als zweiseitige Geschöpfe verteufelt, dämonisiert und lächerlich gemacht. So in der Schwarzsee-, aber auch in der Grasburg-Sage. Mythenspezialist Sommer kennt aber auch eine Geschichte aus dem Einzugsgebiet, die das mystische Wesen in seiner dualen Bedeutung belässt. 

Am siebten Tag ein Ungetüm

In letzterer geht es um die Landschaftsgöttin Helva. Sie ist lieblich und regiert das Land, ist diesem eine grosse Mutter, die alle Wesen fördern will und Harmonie bringt. Gleichzeitig hat sie aber auch einen chaotischen Drachenaspekt: An jedem siebten Tag geht sie in eine Höhle – symbolisch ist das der Zugang zur Unterwelt – und badet dort, verwandelt sich dabei in das mächtige Tier. In dieser Form ist sie fähig, ganze Landstriche zu verwüsten und Berge in sich zusammenfallen zu lassen. Und wer ihr in die Höhle folgt, muss damit rechnen, den Verstand zu verlieren. Ein deutliches Zeichen an die Menschen, nicht in die Unterwelt hinabzusteigen. «Die Kelten wussten, dass sie Helva nicht erzürnen durften, da sie einem sonst das Leben schwermachte.» Dementsprechend sei auch die Verehrung für das Geschöpf gross gewesen, zu ihm sei man in ständigem Kontakt gestanden. 

Vom doppelten ins einfache Böse

So auch im Gantrischgebiet: Lange Zeit war dies dünn besiedelt und zudem eine wenig beachtete Grenzregion zwischen dem burgundischen und dem alemannischen Kulturraum. So blieb es relativ lange heidnisch. Das nutzten vertriebene Keltenstämme, die dann altes Lied- und Kulturgut pflegten. Doch mit der Machtübernahme durch die Kirchen verloren die Menschen den Kontakt zur Götterwelt. Ungeheuer, Zwerge, Feen; das alles war nun Teufelswerk, so dass die Menschen Angst vor ihnen haben mussten. «In diesen Zusammenhang fallen auch die Hexenverfolgungen», weiss Sommer. «Alles, was mit dem Heidentum, also dieser alten Vorstellung zu tun hatte, diesem magischen Bild, das wurde aktiv bekämpft, indem man es verbot und unterdrückte.» Und auch ideologisch sollte nichts mehr bleiben, wie es war. Dies erfolgte, indem man diese Geschichten ganz subtil umkehrte und dämonisierte, so dass die Menschen Angst vor ihren eigenen Symbolfiguren bekamen.

Gebannte Ungeheuer

Auch das Schwarzsee-Narrativ folgt diesem Muster der gewaltlosen Christianisierung: Laut ihm soll das legendäre Ungetier dort nach einem Frevel aus der Kaiseregg herausgekommen sein. Mit dem Kruzifix wurde es dann von einem Einsiedler oder von einem weisen Mann in den See hinunter verbannt, dort soll er bis heute schlummern. Und auch die Grasburg-Story folgt diesem Schema: Ein weisser Hirsch weist dort vor rund 2000 Jahren einem römischen Jäger den Weg zum Felsen, wo ihn dann ein Drache angreift. «Der weisse Hirsch steht für eine Führung zwischen den Welten. Es ist die Zone zwischen der realen Welt und der magischen Welt, die Anderswelt, von der die Kelten viel gesprochen haben. In dieser mussten die Menschen immer wieder Bewährungsproben bestehen. Der Hirsch ist also ein Schwellenhüter», meint Mythenforscher und -experte Sommer dazu.  Wie dem auch sei, der Kämpfer obsiegt und bekommt den Felsen als Geschenk und baut dort die Grasburg. Allerdings stirbt der Drache, wie auch in der Schwarzsee-Saga, nicht, wohl ein Zeichen dafür, dass die Welt der vielen Götter oder, wie man heute sagen würde, «das Böse» immer Teil des Lebens sein wird.

Christentum, Pädagogik, Bürgertum

Nachdem das Christentum die Sagenstränge das erste Mal verfremdete, geschah dies von 1800 bis 1900 zum zweiten Mal. Im Jahrhundert der Geburt des Bürgertums schrieben etwa die Gebrüder Grimm traditionelle Volksmärchen neu auf und überlagerten sie mit damaligen Idealen. Die Märchenbrüder waren allerdings nicht die einzigen, die verschriftlichten: «Fast in jedem Dorf fand sich ein Pfarrer, Volksschullehrer oder Doktor, der das alte Kulturgut sammelte», so der langjährige Sahara-Reiseführer Sommer. Sein Job sei es dann jeweils, das «religiös-ideologische Mäntelchen abzuklopfen» und zum mythologischen Ursprung zu gelangen.

Andreas Sommer dürfte diese Arbeit nicht allzu schnell ausgehen, mittlerweile hat er selbst eine umfangreiche Bibliothek angelegt. Angefangen hat seine Reise in die «Welt der Mysterien» übrigens in der Sahara. Dort arbeitete er, zusammen mit dem Volk der Tuareg, über 10 Jahre als Reiseleiter. Unterwegs war er dort vor allem mit Kamelen. «Am Abend sassen die Einheimischen jeweils am Lagerfeuer und machten Tee, buken sich ein Fladenbrot und erzählten Geschichten.» Zum Teil übersetzten die lokalen Guides, und bald habe der Weitgereiste bemerkt, dass es um Sagen ging. «Häufig ging es um bestimmte Plätze, an denen die Treks vorbeikamen und wo man von Naturgeistern, Flüchen und gebannten Seelen erzählte.» Wo auch immer es passiert ist: Irgendwo dürfte der Funke auf den Sagenmann übergesprungen sein. Und so brachte er die Mythologie zurück ins Üechtland.

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