Zusammen radeln, zusammen wachsen

Zusammen radeln, zusammen wachsen

Zusammenleben: Während 12 Wochen als sechsköpfige Familie auf dem Rad durch Griechenland. 1410 km, 12'400 Höhenmeter, 7 platte Reifen und 72 Zeltübernachtungen.

17. Mai: Ich, Bettina, stehe mit unserem Jüngsten (7) an Deck der Fähre. Voller Freude erspähen wir erstmals die griechische Küste. Viele Fragen schwirren in meinem Kopf, doch grosse Freude macht sich in mir breit, nachdem schon die erste Hürde, die Zugreise mit 19 Taschen und 6 verpackten Velos, gemeistert ist. Freude, endlich richtig viel Zeit zusammen zu verbringen, frei von allen Vorgaben eines strukturierten Schweizer Alltags, mit Arbeit, Schule, Terminen, Clubs. Das Freiheitsgefühl beim Überqueren des riesigen Hafenplatzes in Igoumenitsa ist fantastisch und das Eintauchen ins Unbekannte überwältigend. Doch bereits auf der ersten Strecke fällt eines unserer Kinder, und ich, als Schlusslicht, bin froh, gleich ein Auto zum Verlangsamen zu bringen. Eine riesige Spannbreite verschiedenster Gefühle also. Unsere abenteuerliche Reise bleibt genau das, eine Mischung aus immer vertrauter werden als Familie, als Radfahrer, mit der Region und den Menschen, geschaffenen Ritualen, die Sicherheit vermitteln; und einem grossen Rest an «unsicheren Faktoren», ob wir eine Etappe schaffen können, sich jemand verletzt, wir die Hitze ertragen, der Verkehr gemässigt ist oder ob wir genügend Wasser und Proviant finden.  Als Homeschooling-Mutter zweier unserer vier Kinder bin ich gewohnt, umgeben von Kindern zu sein, und freute mich riesig, während der Reise auch mit den Schulkindern wieder viel Zeit zu haben. Die Verbundenheit untereinander wächst mit jedem Tag und vielen Erlebnissen. Wenn ich nebst den wenigen Ausflügen oder Einkäufen allein Zeit für mich benötige, muss ich noch früher, als uns die Sonne aus dem Zelt jagt, aufstehen. Es ergibt sich aber auch Zeit, sich einem Tagebuch zu widmen, oder zu lesen und dadurch innerlich Raum für sich allein zu geniessen. Unsere Kinder finden glücklicherweise auch Freude daran und können sich mit Lesen, Schreiben, Malen und gemeinsamen Spielen (ohne Spielzeug!) sehr oft ohne uns Eltern vergnügen. Die Privatsphäre ist jedoch sehr schmal. Unterwegs geht mein Repertoire an Geschichten aus meinem Leben an den vielen Steigungen zu Ende und wir müssen neue Spiele erfinden. Gemeinsam schwelgen wir in Erinnerungen aus der Kleinkinderzeit unserer Kinder und erfahren ihre Perspektive darauf. Das Erzählen und Zuhören untereinander hilft allen, beim Hochradeln den Fokus von der Anstrengung weg zu lenken. Einigen gelingt dies trotzdem oftmals viel später, was uns als Eltern abverlangt, Gejammer und Vorwürfe auszuhalten und trotzdem weiter zu motivieren. Wie gross ist dann aber die Freude und Erleichterung, wenn wir irgendwann zusammen die Anhöhe erklommen haben. Beim Runtersausen «singt es» jeweils den meisten von uns und jeder hat Zeit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, das gibt Luft. Eine Auszeit als Familie ist auf jeden Fall beziehungsstärkend und bereichernd, und trotz aller zusätzlichen Vor- und Nachbereitungen wertvoll und verbindend.

Ich, Gabriel, befasse mich gerne mit Geografie und Orientierung. So gilt es für mich, die Route laufend zu planen, die passenden Strassen zu finden und die Familie auf bevorstehende Etappen vorzubereiten. Ich habe die Steilheit griechischer Strassen unterschätzt. Die Kinder fragen oft, wie viele Höhenmeter oder Kilometer geht es noch? Es hilft, dann Antwort zu geben: Das gibt Orientierung. Doch ist nicht alles planbar und es kommt auch mal anders als erwartet. Das erfordert Flexibilität im Kopf und Mut zu spontanen Planänderungen, z.B. wenn die Energietanks der Kinder leer sind, wenn ein Reifen platzt oder unerwartet wilde Hunde aufkreuzen. Um die Strapazen zu meistern, ist der Fokus der Schlüssel. Insbesondere bei den Kindern. Wenn sie sich auf die Anstrengung und die langen Anstiege konzentrieren, dann wird gejammert, gewettert und die Stimmung geht tief in den Keller. Sie kann sogar auf die ganze Familie überschwappen. Wenn sie einen anderen Fokus haben, also das Erlebnis oder eine Absicht im Mittelpunkt steht, gehen die Kilometer wie von selbst. Ich staune, was für Leistungen sie an den Tag legen. Der Reisealltag spielt sich mit der Zeit ein. Wir sind aber auf die Mithilfe aller angewiesen, um ihn zu meistern. Das enge Zusammenleben bringt Muster und Verhaltensweisen deutlich hervor; Gesprächsstoff, um am eigenen Charakter zu feilen. Wir lernen einander besser kennen. Eine Erkenntnis fürs Leben aus dieser Reise: Es braucht Zeit zwischen den Radkilometern (erreichten Zielen), um die (Lebens-)Reise ganzheitlich zu erleben. Innehalten zum Trinken und Essen, zum Erkunden der Landschaft, zum Baden und Spielen oder für eine ermutigende Umarmung … Auch radfreie Tage sind wertvoll, um die Reise zu verarbeiten, Tagebucheinträge zu schreiben, zu spielen, sich zu erholen, Kulturelles zu sehen und individuellen Aktivitäten nachzugehen. Durch das unmotorisierte Reisen und das eingeschränkte Packvolumen nutzen wir das, was wir haben, viel intensiver. Lernen schätzen, was wir haben, aber auch, was wir erst wieder zuhause haben werden. Unsere älteste Tochter teilte mir eines Abends voller Freude mit: Ich bin so glücklich. Das hat mich berührt. Wie oft sagen wir uns das, wenn wir im Alltag zusammenleben?

Bettina und Gabriel Jordi wohnen mit ihren vier Kindern in Kehrsatz. Gabriel ist Geschäftsführer und Co-Inhaber der Druckerei Jordi AG in Belp.

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Zusammen radeln, zusammen wachsen

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