Die stillen Hüter des Lebens

Die stillen Hüter des Lebens

Können Sie sich einen Himmel ohne Vögel vorstellen? Einen Fluss ohne seine Bachläufe oder die Erde ohne ihre grüne Lunge? Unsere Bäume und Wälder sind von unermessbarer Wichtigkeit für ein funktionierendes Ökosystem, zu dem auch wir dazu gehören – denn auch wenn der Mensch immer wieder dazu neigt, sich als abgespalten von der Natur wahrzunehmen, ist auch er letzten Endes Teil davon. Dies wieder wahrzunehmen, gelingt kaum einfacher, als wenn wir uns aufmachen in den nächstgelegenen Wald – am besten mit ausgeschaltetem Handy. Nicht umsonst fühlt es sich wie eine Art Schwellenübertritt an, sobald man einen Wald betritt. Der ganze Alltagslärm rückt in den Hintergrund und die Welt wird auf einmal ganz leise. An die Stelle des kalten, blauen Bildschirmlichts rücken warme und ruhige Farben, Abgase und der Fritteusengeruch vom Restaurant nebenan machen behaglich holzig-erdigen Düften Platz. Willkommen im Reich der Bäume.

Der Mensch braucht Bäume, um gesund und glücklich leben zu können. Schon der Anblick eines Waldes genügt, damit der Blutdruck sinkt, der Puls sich verlangsamt und die Konzentration des Stresshormons Kortisol abnimmt, dies haben die Mediziner J. Lee und Bum-Yin Park bei Probanden in mehreren Feldstudien in japanischen Wäldern gemessen.

Waldbaden für die Psyche

Eine Frau, die sich bestens im Wald auskennt und über seine gesundheitsfördernden Effekte auf den Menschen Bescheid weiss, ist Sonja Grossenbacher. Die Resilienz- und Waldachtsamkeitstrainerin, Coachin und psychologische Beraterin ist regelmässig mit kleinen Gruppen in den Wäldern des Gantrischgebiets unterwegs. «Das tiefe Eintauchen in die Waldatmosphäre bietet ein ausgiebiges Entspannungsbad für Körper, Geist und Seele und ist gleichzeitig eine Oase für all unsere Sinne», beginnt Grossenbacher.

Ihre heutige «Kundin» ist die Autorin dieses Textes, denn ein Bericht schreibt sich immer besser, wenn man das, worüber man schreibt, gleich selbst erlebt hat. «Seit ich bewusst in den Wald gehe, nehme ich viel mehr wahr. Siehst du zum Beispiel diesen lustigen Baum dort drüben?» Mit einem Kopfnicken weist die Achtsamkeitstrainerin auf einen verdrehten Baum hin, der statt senkrecht gegen Himmel waagrecht über den Boden wächst. Er hat sich einen etwas ungünstigen Platz ausgesucht, denn seine Nachbarn stehlen ihm das für das Wachstum notwendige Sonnenlicht. Kein Problem für ihn, wächst er eben statt in die Höhe in die Breite und schlängelt sich mit geschickten Drehungen und Schlaufen über den Boden, bis seine Blätter eine Stelle mit mehr Licht erreichen. «Wenn ich diesen Baum so beobachte, löst dies Gefühle, Gedanken, Emotionen in mir aus. Unterbewusst stelle ich Brücken zum eigenen Leben her. Der Baum wirkt auf mich sehr kreativ, er lässt sich nicht so schnell unterkriegen und findet einen Weg aus dem Dickicht. Mit solchen Bildern arbeite ich unter anderem in meinen Coachings – die Menschen erkennen sich auf einmal selbst in den Bäumen wieder», so Grossenbacher. «Der Wald kann helfen, den Alltag zu vergessen, Gedankenstrudel zu unterbrechen, und erlaubt es dem Menschen, zur Ruhe zu kommen.» Eine bewusste Achtsamkeitspraxis im Wald könne so zu zahlreichen positiven Wirkungen auf das körperliche und mentale Wohlbefinden führen. «Lassen wir es zu, dass der Wald auf uns wirkt, fördern wir die innere Balance und das Wohlbefinden, entfachen unsere Kreativität und finden mitunter sogar wertvolle Ideen und Lösungen für anstehende Themen.» Bäume können also bei der Entfaltung unseres vollen Potenzials helfen, uns daran erinnern, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen und manchmal sogar neue Erkenntnisse vermitteln.

Waldbaden fürs Immunsystem

Wir begeben uns immer tiefer in den Wald. Die Bäume stehen hier dichter zusammen, und uns umgibt der typische «Waldgeruch» – eine Mischung aus Harz, feuchtem Laub und Erde. «Die Gerüche des Waldes schmeicheln nicht nur unserer Nase, sondern haben darüber hinaus auch eine ausserordentlich positive Wirkung auf unser Immunsystem», weiss Grossenbacher. Verantwortlich dafür seien die sogenannten Terpene – biochemische Stoffe, die von den Bäumen abgegeben werden. Die Konzentration dieser Duftmoleküle ist auf der Höhe unserer durchschnittlichen Körpergrösse am höchsten, und im Sommer, wenn es ganz warm ist, werden sie manchmal sogar sichtbar. «Die Terpene haben einen positiven Einfluss auf unsere natürlichen Killerzellen, die für die Bekämpfung von Viren und Bakterien in unserem Körper zuständig sind. Sie lassen diese um bis zu 50 % ansteigen, und das nachweislich sogar für mehrere Wochen, je nachdem, wie lange der Aufenthalt im Wald dauert.» Ausgiebiges «baden» im Wald tut also nicht nur der Seele gut, sondern auch dem Immunsystem. Doch auch die Bäume nutzen die Terpene zu ihrem eigenen Schutz. Mit dem Verströmen dieser können sie einerseits nützliche Insekten auf Schädlingsbefall aufmerksam machen oder sogar ihre Artgenossen warnen: Wenn ein Baum beispielsweise von einem Fressfeind befallen wurde, kann er über die Abgabe seiner Terpene in die Luft die anderen Bäume informieren und diese wiederum dazu bringen, ihre chemischen Schutzmechanismen hochzufahren.

Waldbaden fürs Nervensystem

«Ich möchte nicht verallgemeinern, aber es ist nun mal so, dass wir heute einen Grossteil unserer Existenz im Sympathikus verbringen», sagt Grossenbacher und spielt damit auf das vegetative Nervensystem des Menschen an. Sympathikus und Parasympathikus bilden als Gegenspieler zusammen mit dem enterischen Nervensystem das vegetative Nervensystem des Menschen. Der Sympathikus sorgt für eine Leistungssteigerung und wird zum Beispiel in Stress- und Notfallsituationen aktiviert, auch bekannt unter «Fight or Flight-Modus». In Ruhe- und Erholungsphasen hingegen übernimmt der Parasympathikus. «Wenn wir in den Wald gehen und uns auf die Natur einlassen, schaltet sich der Parasympathikus ein. Durch die schnelllebige Gegenwart, in der die meisten von uns ihren Alltag bestreiten, herrscht ein Ungleichgewicht zwischen den beiden, und der Parasympathikus kommt meist zu kurz. Welche Wohltat ist es da, mit einem Ausflug einen bewussten Wechsel zu vollziehen, und wieder einmal den Parasympathikus ans Steuer zu lassen.»

Waldbaden – für jeden anders

Wir können also sehr viel für unsere Gesundheit machen, indem wir uns einfach auf den Wald einlassen, es braucht gar nicht mehr. Mit kleinen Dingen kann man im Grossen ganz viel bewirken. Doch auch hier gilt: Verallgemeinern kann man all dies nicht. «Auf jeden Menschen wirkt der Wald anders. Einmal war ich mit einer interkulturellen Gruppe unterwegs – dabei waren Mütter mit ihren Kindern – und das Waldbaden war aber für die Teilnehmenden alles andere als entspannend», erinnert sich Grossenbacher. In den Herkunftsländern dieser Menschen bedeutete der Wald nämlich vor allem eines: Raubtierterritorium.

Was wir zurückgeben können

Was die Wald-Coachin gerne besonders Familien mitgeben möchte: «Geht mit euren Kindern in den Wald, verbringt Zeit mit ihnen in der Natur, lehrt eure Kinder, mit Naturmaterialien zu spielen und zu interagieren. Dies fördert sie wesentlich in der Enwicklung ihrer Kreativität.» Weiter ist Grossenbacher überzeugt, dass der Respekt, die Rücksichtsnahme und das Mitgefühl für unsere Umwelt – und damit auch für den Baum und für den Wald – bereits in den Kinderschuhen verwurzelt ist. «Ich sollte mich nicht bloss fragen: Was kann der Wald mir geben, sondern auch, was kann ich dem Wald zurückgeben?»

Dazu gehört zum Beispiel, Abfall und Zigarettenstummel aufzusammeln, Bäume nicht zu verletzen, sie selektiv statt radikal zu fällen und beim Kauf von Holzprodukten darauf zu achten, dass dieses nachhaltig gewonnen wurde. «Der Wald gibt uns so viel, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Machen wir es ihm nach und seien wir ihm ein guter Freund.»

Der Baum als Lebensraum

Bäume sind nicht nur wertvoll für den Menschen, sie bieten auch unzähligen Tieren eine Lebensgrundlage und sind deren Lebensraum. Carmen Bezençon ist leidenschaftliche Malerin und Feldornithologin und bietet unter anderem Exkursionen im Naturpark Gantrisch an. Typisch für den Park, da sich dieser im Berggebiet befindet, seien die Voralpenwälder. Ein einzigartiger «Schatz» des Naturparks sind zwei seltene Kauz-Arten, die in diesem Gebiet vorkommen: Der Raufusskauz und der Sperlingskauz. Weiter kann man in den Wäldern des Naturparks mit etwas Glück das scheue Birkhuhn oder den Dreizehenspecht entdecken. Auch einen alten Bekannten trifft man hier besonders häufig an, nämlich der Buchfink. «Die Wälder rund um den Gurnigel sowie die Wasserscheide sind von zentraler Wichtigkeit für die hiesige Flora und Fauna.» Die Wasserscheide stelle zudem einen wichtigen Übergangspunkt für Zugvögel dar. «Die Qualität der Lebensräume geht kontinuierlich zurück, was zur Folge hat, dass es den Vögeln schlecht geht. Die Kulturlandarten trifft es am schlimmsten, auch im Naturpark Gantrisch: der Bestand an Feldlerchen beispielsweise hat drastisch abgenommen.» In den 90er Jahren brüteten im Gürbetal noch Steinkäuze und Kiebitze, diese sind mittlerweile bei uns als Brutvögel ausgestorben. Die fehlende Nahrung, Überdüngung und ausgeräumte Landschaften seien die Hauptgründe, warum es den Kulturlandarten so schlecht geht. Den waldansässigen Arten gehe es jedoch verhältnismässig gut. «Totholz ist sehr wichtig für die Biodiversitätsförderung. Allgemein ist es nur gut, wenn Naturalien auch mal liegengelassen werden. Bäume sind nicht nur lebendig, sondern auch tot wertvoll», führt die Feldornithologin aus. Der Dreizehenspecht zum Beispiel ist auf stehendes Totholz angewiesen, um darin seine Höhlen bauen zu können. Zahlreiche weitere Tiere wie Sperlingskauz, Haselmaus und Insekten benutzen diese Höhlen als Nachmieter. Und generell gelte: «Je durchmischter und besser strukturiert ein Wald, desto besser das Nahrungsangebot für die Tiere.»

Um die Vogelvielfalt in unseren Gärten zu fördern, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Es können Sträucher gepflanzt werden – gerne solche mit Dornen und Beeren, denn genau das brauchen viele Vögel. «In den stacheligen Gebüschen können die Vögel ihre Nester bauen und sind besser vor Feinden geschützt, die Beeren dienen ihnen als Nahrung. Weiter empfehle ich, auf offene Bodenstellen zu achten. Diese brauchen zum Beispiel die Erdspechte wie der Grünspecht, damit sie Ameisen fressen können. Generell ist es gut, Landflächen auch immer etwas unordentlich zu lassen: Stein- und Asthaufen locken Insekten und Kleinsäuger an, die dann als Futter den Vögeln dienen», so Bezençon. Da heute viele Haushalte Katzen haben, bietet es sich an, auch das Büsi in den Vogelschutz miteinzubeziehen: «Bei der Vogelwarte Sempach kann man bunte Halskrausen beziehen, die man über das Halsband streifen kann. Man weiss noch nicht genau warum, aber erwiesenermassen haben die Katzen weniger Jagderfolg damit.»

Info:

Sonja Grossenbacher:
www.waldzeit-naturwerkstatt.ch

Carmen Bezençon:
www.espace-vivant.com

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Die stillen Hüter des Lebens

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