Der Schatz im Tenn

Der Schatz im Tenn

In der Osterzeit zog einst ein junger, heimatloser Bursche auf der Suche nach Arbeit durch das Üechtland. Am Karfreitagabend klopfte er an die Tür eines hablichen Bauern. Dort war er freilich an den Falschen geraten. Unwirsch forderte der Hofherr den Fremden auf, hurtig das Weite zu suchen.

Als der Jüngling sich zurückgezogen hatte, rief ihn am Waldrand unverhofft eine freundliche Stimme aus der Dunkelheit an. Es war die Tochter des Höflers, welche die Szene an der Tür betroffen mitverfolgt hatte. Sie war, ganz anders als ihr raubolziger Vater, von sanftmütiger Wesensart. «Hier, nimm Brot und Käse», flüsterte sie dem abgewiesenen Burschen zu. «Und wenn du heute Nacht eine trockene Bleibe suchst, dann schlüpfe unter dem Dach ins Heu. Bloss, sieh zu, dass du dich morgen zeitig auf den Weg machst, damit mein Att nichts von dir merkt. Viel Glück auf deinem Weg.»

Dankbar richtete sich der Bursche auf der Heubühne ein und entschlummerte bald. Mitten in der Nacht erwachte er jedoch. Merkwürdige Geräusche im Tenn unterhalb seiner Liegestatt liessen ihn aufschrecken. Verwundert hielt der geheime Übernächtler Nachschau. Zu seinem Erstaunen erkannte er den Hofherrn, welcher den Boden der Dreschkammer aufgegraben hatte. Gerade versenkte er im Licht einer schwarzen Kerze eine schwere Kiste in dem Loch und begann alsbald, wieder Erde darüber zu häufen. Zuletzt stampfte er den Boden fest und legte die Dielen darüber. Dann zog er mit Kreide über jener Stelle, wo er die Schatulle vergraben hatte, einen Kreis auf den Holzboden und kritzelte allerhand fremdartige Zeichen an dessen Rand. Als er fertig war, ging er mit schweren Schritten um die Markierung herum und brummte vernehmliche Worte: «Unauffindbar und unberührbar liege dieser Schatz hier begraben. Erst in jener Karfreitagsnacht, da jemand auf einem weissen Ziegenbock rückwärts über den Bannkreis reitet, tue sich die verborgene Grube wieder auf. Das Wort gesetzt. Der Schatz gebannt. So sei es in Herodes’ Namen. Jetzt und auf immerdar.»

Noch ehe der neue Tag heraufdämmerte, befand sich der Bursche bereits wieder auf der Landstrasse. Die unheimlichen nächtlichen Vorgänge auf dem Bauernhof hatten ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Galt nicht die Karfreitagsnacht seit jeher als verrufener Zeitpunkt, um allerlei üblen Zauber und Hexenwerk zu treiben?

Ein gütiges Geschick führte den Landstreicherjungen in der nächsten Stadt zu einem wohlwollenden Handwerksmeister, wo er gnädige Aufnahme und Arbeit fand. Da er anstellig war und einen rechten Sinn hatte, nahm ihn der Alte in die Lehre und zahlte ihm einen anständigen Lohn für seine Dienste. Drei Jahre verbrachte der junge Mann in der Fremde, doch letztlich befiel ihn die Sehnsucht nach seiner Heimat, und er beschloss, wieder an den Ort seiner Herkunft zurückzukehren und sein erlerntes Handwerk dort auszuüben.

Sein Heimweg führte ihn an dem Hof des reichen Bauern vorbei, der ihn einst so schmählich abgewiesen hatte. Doch erinnerte sich der Bursche auch an dessen barmherzige Tochter, welche ihm damals in der Not beigestanden war. Einem unbestimmten Gefühl folgend entschied er, diesen Leuten noch einmal seine Aufwartung zu machen.

Die Bauerntochter selbst war es, die ihm diesmal die Tür öffnete. Sie war eine hübsche, junge Frau geworden, auch wenn deutliche Sorgenfalten ihr Gesicht umwölkten.

Als ihr der Bursche die Begebenheit von damals in Erinnerung rief, huschte ein Lächeln um den Mund der Maid, und sie hiess den unvermuteten Gast in die Stube treten. Im Gespräch zwischen den jungen Leuten stellte sich bald heraus, dass der Hofherr unlängst das Zeitliche gesegnet hatte. Seit man ihn auf dem Kirchhof beigesetzt hatte, herrschte freilich grosse Unruhe in Hof und Stall. Das Vieh gebärde sich nachts oft wie verrückt. Die Käsmilch wolle nicht mehr recht gerinnen. Im Fruchtspeicher mache sich das Schwarzkorn breit. Und sobald es draussen dunkel werde, rumore und poltere es ohne Unterlass durch Gaden und Scheune. Es sei fast nicht mehr zum Aushalten an diesem Ort. Knecht und Magd seien längst davongelaufen. Leider habe ihr Att kaum etwas hinterlegt, womit sich die Wirtschaft noch über Wasser halten lasse. 

Der Bursche sah wohl, dass ernsthafter Kummer die junge Nachfolgerin des verstorbenen Höflers plagte. Mit Schaudern erinnerte er sich an das sonderbare Schauspiel, welches sich ihm damals in jener denkwürdigen Nacht im Tenn dargeboten hatte. «Du hast mir geholfen, als ich in Not war», verkündete er der jungen Frau schliesslich. «Nun will ich zusehen, was ich für dich tun kann.»

Der Bursche begab sich ungesäumt auf die Suche nach einem weissen Ziegenbock und erstand ihn mit seinem Zusammengesparten. Als er die Bauerntochter über sein Vorhaben aufgeklärt hatte, richteten sie den Bock mit viel Geduld und Liebesmühe ab, so dass er sich rückwärts reiten liess. Derweil rückte die Osterzeit allmählich wieder näher. In der Karfreitagsnacht entzündeten die beiden jungen Leute im Tenn eine schwarze Kerze. Der junge Mann erinnerte sich noch genau an jene Stelle, wo der dahingeschiedene Bauer damals die Bodenbretter entfernt hatte. Mit einem Stück Kreide zeichnete er den Bannkreis nach. Alsdann setzte sich der Bursche verkehrtherum auf den Bock, während die junge Bäuerin das Tier geschickt mit einer Handvoll Lecksalz über die Markierung lockte.

«Das Wort erfüllt. Der Bann gelöst», rief der Jüngling, als das Stück gelungen war. «So sei es in Herodes’ Namen. Jetzt und auf immerdar!» Dann fasste er seine Gefährtin bei der Hand und zog sie rasch weg.

Ein markerschütterndes Krachen liess das Tenn erbeben. Wie von einer unsichtbaren Riesenfaust aufgeworfen, bogen sich die Dielen und sprangen schliesslich splitternd auseinander. Eine Fontäne aus Erde und Staub wurde in die Höhe geschleudert, und furchtbare Geräusche dröhnten durch den Raum.

Die beiden jungen Leute duckten sich vor dem Getöse in eine Ecke und warteten ab, bis der Spuk sich wieder beruhigt hatte. Die Grube im Tennboden lag offen da, die verborgene Kiste war freigelegt. Unter den Überresten des gesprengten Deckels schimmerten Golddukaten.

Nachdem der geborgene Schatz wieder an das Tageslicht gebracht war, fand der ruhelose Wiedergänger auf dem Hof endlich Frieden und brauchte seine Nachkommen nicht länger heimzusuchen. Das gehobene Gold reichte bei Weitem, um die angeschlagene Wirtschaft des Bauerngutes wieder auf Kurs zu bringen. 

Es heisst, der junge Mann habe diesen Ort danach nicht mehr verlassen. In jener unvergesslichen Karfreitagsnacht hatte er seinen grössten Schatz gefunden: das liebende Herz seiner künftigen Braut.

Frei nacherzählt nach German Kolly und anderen Quellen.
Andreas Sommer

 

Helisee – Der Ruf der Feenkönigin

Das Sagenepos des Üechtlandes

Andreas Sommer hat der regionalen Sagenwelt ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er auf der Grundlage lokaler Sagenmotive erstmals einen umfangreichen Roman für 

Erwachsene und Jugendliche geschrieben hat. Die Geschichte spielt im Königreich Burgund zur Zeit der guten Königin Bertha und erzählt vom alten Bund der Landbevölkerung mit dem Feenvolk. Die bekannte Schwarzenburger Sage über die Feenkönigin Helva und den Hirtenjungen Erni erhält durch diesen magischen Roman eine epische Form.

Das Buch erscheint im März bei Books on 

Demand. Im Pumpenhaus in Schwarzenburg stellt der Autor sein neues Werk in einer Serie von Lesungen erstmals der Öffentlichkeit vor. Für folgende Daten können Plätze reserviert werden: 25. / 27. / 29. März, 1. April. 

www.animahelvetia.ch 

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Der Schatz im Tenn

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