«Die 40-Stunden-Woche ist kein Naturgesetz»

«Die 40-Stunden-Woche ist kein Naturgesetz»

Der Arbeitsmarkt ist im Wandel. Und damit auch die Strukturen und Arbeitsbedingungen der Angestellten. Ein Soziologe und eine Arbeitspsychologin sprechen über die Relevanz der Länge der Arbeitszeit, über Vor- und Nachteile von Homeoffice, über den Einfluss der Digitalisierung auf gewisse Arbeiten und über die Motivation in Zeiten der Veränderung.

Stellen Sie sich vor, in rund neun Jahren würden wir nur noch 15 Stunden pro Woche und somit drei Stunden pro Tag arbeiten. Wären sie dafür oder dagegen? Die Idee trifft in der Bevölkerung auf gespaltene Meinungen.

Angst um die Wirtschaft
Sie stammt vom britischen Ökonomen und Philosophen John Maynard Keynes, der 1930 einen Aufsatz veröffentlichte, wie die Menschen 100 Jahre später ihre Freizeit gestalten werden. Sebastian Schief, Soziologe, Lehr- und Forschungsrat an der Universität Freiburg, findet die Idee einer 15-Stunden-Woche spannend; auch wenn für ihn klar ist, dass dies nicht erreicht wird. «Wenn wir schauen, wo wir uns jetzt befinden, scheint Keynes Idee sehr optimistisch», schmunzelt Schief und fügt an: «Die 40-Stunden-Woche ist kein Naturgesetz, niemand sagt, dass der Mensch genau so viele Stunden arbeiten sollte. Diese Regelung hat sich in den 60er- bis 70er-Jahren eingebürgert.» Keynes Ansatz sei daher eine Überlegung wert: «Wir können uns fragen, ob eine Reduktion des Arbeitspensums in der Gesellschaft wünschenswert wäre», überlegt er. Die Identität der westlichen Gesellschaft sei stark geprägt durch die Arbeit. «In der Schweiz wurde aus diesem Grund beispielsweise eine längere Ferienzeit abgelehnt», weiss der Soziologe. «Viele Leute hätten Angst, dass die Wirtschaft zu viel Schaden davontragen würde und die Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr gegeben wäre. Ich denke aber, das ist ein Mythos», meint Schief. Ein erster solcher Schritt wurde in Island gewagt. Dort wurde im Rahmen eines Projekts die 4-Tage-Woche eingeführt und untersucht, welche Auswirkungen dies auf die Wirtschaft und die Menschen hat. «Tatsächlich konnte man erkennen, dass dieser Ansatz gut funktioniert, obwohl alles auch eine Frage der Organisation und des Geldes ist», freut sich Schief. Die ehemalige Arbeitspsychologin bei der Bundesverwaltung, Vanda Descombes, sieht in einer reduzierten Arbeitszeit ebenfalls einen positiven Aspekt: «Wenn wir weniger arbeiten, haben wir mehr Erholzeit, was wiederum zu mehr Leistungsfähigkeit führen kann.» Für sie sei ein gemeinsam vereinbartes Leistungsziel in einer festgelegten Frist sowieso besser, als eine Zeitvorgabe des Pensums, denn: «Nicht jeder arbeitet gleich schnell und zur gleichen Tageszeit gleich gut.» Sie sei sich jedoch bewusst, dass dies für den Arbeitgeber schwieriger umsetzbar sei, ergänzt sie.

Viele Veränderungen
Die Digitalisierung und die Pandemie bringen neue Veränderungen in die Arbeitswelt. Durch die Automatisierung werden viele Jobs ersetzt, auch wenn es dadurch nicht weniger gebe, ist sich Des­combes sicher: «Ich denke, es kommt zu einer Verlagerung. Alte Tätigkeiten fallen weg, neue entstehen. Natürlich gibt es aber Verlierer und Gewinner der Digitalisierung.» Für diejenigen, die einen Job verlieren würden, sei das schwierig.» Dem stimmt Schief zu: «Wir sehen beispielsweise bei Banken oder Dienstleistungen eine Verlagerung, da heute die Option besteht, alles online zu erledigen oder zu bestellen.»
Die Pandemie brachte viele Änderungen
für Arbeitnehmende, beteuert er: «Es scheint mir offensichtlich, dass diese Umstellung von Büro zu Homeoffice, nachhaltig Einfluss haben wird. Es gibt Firmen, die bieten jetzt schon fix die Möglichkeit an, 50% von Zuhause und 50% im Büro zu arbeiten.»
Die Unternehmen können dadurch an Platz sparen, da es keine festen Arbeitsplätze mehr brauche; dies wiederum hat eine autonomere Organisation zur Folge. «Noch vor zwei Jahren hätte ich gesagt, dass persönliche Kontakte vor Ort unabdingbar sind. Nunfrage ich mich aber: Finden wir da nicht Zwischenlösungen?», schildert Schief seine Überlegungen. Descombes steht dem Arbeiten von Zuhause etwas kritischer gegenüber: «Durch den reduzierten sozialen Austausch und den fehlenden informellen Gesprächen (z.B. in der Kaffeepause), geht auch eine Quelle der Kreativität verloren und der Teamzusammenhalt leidet. Ausserdem hat der Arbeitgeber weniger Kontrolle über die erbrachten Leistungen.» Eine Mischform fände sie daher ideal und eher umsetzbar.

Und bei uns?
Brechen wir die Aussagen der beiden Experten auf das Gantrischgebiet herunter, ergeben sich zwei Erkenntnisse. Die Digitalisierung wird von der Politik als heilsbringender Problemlöser für alle Randgebiete dargestellt. Bundesrätin Simonetta Sommaruga spricht von Datenautobahnen, die man auch in die entlegensten Gebiete so gut ausbauen muss, damit diese immer an die Welt angeschlossen sind. Das klingt gut und mag in einigen Arbeitsgebieten durchaus stimmen. Nun sind aber in den Randgebieten Landwirtschaft und Handwerksberufe stärker vertreten als in dichter besiedelten Regionen. Wenngleich die Digitalisierung alle Bereiche verändert und modernisiert, so ist und bleibt die physische Arbeit des Menschen hier gefragt und kann nicht gänzlich ersetzt werden. Das ist sicherlich auch gut so. Das zweite betrifft die Arbeitszeiten. Es dürfte eher schwierig werden, in einem Landwirtschaftsbetrieb mit Tieren die Arbeitszeiten nach unten zu korrigieren. Denn schon die 40-Stunden-Woche ist für einen Agronom etwas, das er nur vom Hörensagen kennt. Viel eher sind seine Arbeitszeiten mit jenen eines Chi­rurgen zu vergleichen. Die Entwicklungen greifen also durchaus in Form der Digitalisierung auf das Gebiet ein, ohne aber gleich starke Veränderungen zu erzeugen wie in dichter besiedelten Gebieten.
Was ist wichtig, damit Arbeitnehmende – gerade in Zeiten der Veränderung – motiviert bleiben? «Wertschätzung und Vertrauen sind die Grundvoraussetzung für ein gutes Arbeitsverhältnis», weiss Des­combes. Weiter sollte der Arbeitgeber sich auf die Stärken beziehen, mal Lob aussprechen und einen Gestaltungs-, Handlungs und Entscheidungsspielraum innerhalb der Arbeit bieten. Heutzutage sei auch die Vereinbarkeit von Beruf, Freizeit und Familie ein wichtiges Thema, fügt die Könizerin an. «Motivation kann zwar auch durch Geldleistungen, beispielsweise Auszahlung von Boni oder Gehaltserhöhungen, gesteigert werden. Ich bin mir aber sicher, dass die Möglichkeit zu Weiterbildung oder die Übernahme einer neuen, allenfalls anspruchsvolleren Aufgabe eine ebenso gute, wenn nicht gar nachhaltigere Motivationsspritze ist», zeigt sie sich überzeugt.
Bleibt offen, ob die Verkürzung der Arbeitszeit tatsächlich eine solche Spritze für die Arbeitswelt darstellen würde. Für die Arbeitnehmenden, für die Arbeitgeber sowie für die Wirtschaft.

Nadia Berger

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«Die 40-Stunden-Woche ist kein Naturgesetz»

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