Die Menschen applaudieren am Strassenrand. Ein Mädchen zeigt mit dem Finger auf das junge Geisslein, das mitten im Alpabzug Bocksprünge zelebriert und wenige Meter daneben beäugt ein älterer Mann die Blumenpracht der geschmückten Kühe, während die Treicheln und der Jubel der Gäste zu einem harmonischen Klangbild verschmelzen.
Alpabzug
Heute zählt der Alpabzug in Plaffeien, jeweils am 4. Samstag im September, zu den grössten der ganzen Schweiz. Ohne Marketing, dafür mit dem, was da ist: einer Menge stolzer Hirten, die ihre Tiere nach der Sömmerung, geputzt, gepflegt und geschmückt zurück ins Tal bringen. Rund 1000 an der Zahl. «Das hat nur mit ein paar Leuten begonnen», sagt Antoinette Krattinger, Gemeinderätin und Kulturverantwortliche von Plaffeien. Wie war es möglich, dass daraus ein Grossanlass entstand? Eine Antwort könnte der deutsche Logopäde und Heilpraktiker Thomas Möginger liefern, wenn er sagt: «Tradition braucht zwei Dinge: ein grosses Herz und einen ignoranten Geist.» Die Plaffeier sind gesellige Menschen, die ihre Freude teilen, aber auch stur genug sind, ihre Traditionen zu leben, ganz gleich, ob die Welt ringsherum ein klein wenig anders tickt. Das fasziniert. Ein authentisches Fest mit bodenständigen Menschen lockt Gäste aus der ganzen Schweiz an.
Hort der Bräuche
Der Alpabzug ist bei Weitem nicht der einzige Grossanlass, den die 3600 Einwohnerinnen und Einwohner stemmen. Märit, Jodlerabend oder Bergkranz Schwingfest sind weitere Beispiele, die mit der örtlichen Tradition einhergehen. Der «Jodlerklub Alphüttli Plaffeien» gehört zu den besten seines Fachs und veranstaltete im Jahr 2019 anlässlich seines 75-jährigen Bestehens auch das Eidgenössische Jodlerfest. «Für den alljährlichen Jodlerabend stehen die Leute schon Stunden vor der Türöffnung an», weiss Krattinger. Gelebte Tradition wird nirgends so offensichtlich, wie bei diesen Sängern. Wo viele Klubs händeringend nach Nachwuchs suchen, herrscht in Plaffeien eine gute Durchmischung von Jung bis Alt, von Zugezogenen und Familien, die schon seit jeher gerne einen Jutz zum Besten gaben. «Zyt für Gmüetlichkiit» heisst passend die letzte CD und ein Lied von ihnen.
Ort der Vereine
Wer die Töne nicht optimal trifft, der findet in Plaffeien in einem der vielen anderen Vereine Platz. «Wie selbstverständlich helfen diese einander, wenn ein Anlass stattfindet», erzählt die Gemeinderätin. Solche gibt es wahrlich viele, denn unter den Vereinen sind etliche, die als Veranstalter wiederum Tausende nach Plaffeien und Schwarzsee locken. Sei es der Skiclub Schwarzsee, der mit seinem Countryfest über viele Jahre Geld für die eigenen Juniorinnen und Junioren generierte, oder der FC Plaffeien, der sich stark für die Jugendlichen engagiert. Dazu kommen überkommunale Vereine, die in Plaffeien/Schwarzsee ihre Anlässe abhalten, das Schwarzsee-Schwinget beispielsweise. Oder mehrere Pferdesportanlässe auf der ortseigenen Reitanlage, wo etwa die Freibergerzucht eine wichtige Rolle spielt. «Mit vielen pflegen wir spezielle Regelungen und helfen mit, sei es finanziell oder mit Infrastruktur», beweist Krattinger, dass die Gemeinde das Herzblut ihrer Vereine und die Anlässe mitträgt. Längst sind Gemeinde und die Tourismus AG, als Veranstalter des Alpabzugs etwa, in die vielen Veranstaltungen im kleinen Dorf involviert.
Fasnacht
Nicht alles entspringt aber dem örtlichen Brauchtum. Die Fasnacht mit ihrem Umzug, der eigenen Guggenmusik und den Restaurants, die anschliessend für gute Laune sorgen, verdankt das Dorf der Initiative eines Zuzügers. Bruno Süess ist vor Jahrzehnten aus Luzern nach Plaffeien gezogen und konnte sich als Innerschweizer kein Leben ohne Fasnacht vorstellen. Aus seiner Initiative, erste Guggenmusiken ins Senseoberland zu bringen, ist ein fester Anlass geworden, der aus Plaffeien nicht mehr wegzudenken ist. Die Fasnacht reiht sich nahtlos in den Reigen der Feste ein und das ist kein Zufall. Zum einen passt der Anlass zur Geselligkeit des Dorfes und zum anderen ist die Fasnacht selbst ein Brauchtum, dass zurückgeht auf jene Zeit, als man den Winter mit Pauken und Trompeten zu vertreiben versuchte, vor vielen, vielen Jahren sicherlich auch in Plaffeien.
Herzblut bleibt
Es gäbe noch viele weitere Beispiele von Feierlichkeiten in Plaffeien zu nennen. Sie alle begannen im kleinen Kreis und viele davon zeugen vom Stolz der «Einheimischen» auf ihr Brauchtum. «Das bödelet und das haben wir gerne», fasst Krattinger zusammen. Weshalb gerade Plaffeien diese besondere Rolle einnimmt, könnte aber nicht nur dem Herzblut und dem Stolz zu verdanken sein. Die Kulturverantwortliche hat noch eine weitere Vermutung: «Wir sind am Rand zwischen Bernbiet und Romandie. Weil es das erste oder letzte Dorf im Bezirk ist – je nach Betrachtung – sind die typischen Seisler Werte der Geselligkeit und des fleissigen Schaffens noch ein wenig mehr erhalten geblieben», sagt sie in einem breiten Dialekt, der gleich Zeugnis der Seisler Eigenheiten ablegt.
Zurück zum Alpabzug: Wenn die Kühe, Geissen und Freibergerpferde zuhause sind, freuen sie sich auf das frische Strohbett im heimischen Stall. Der Anlass geht nun im Festzelt weiter. Die Treicheln sind verstummt und machen den Klängen von Alphorn, Jodlern und Schwizerörgeli Platz. «Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers», sagte einst Jean Jaures. In Plaffeien lodert dieses Feuer nicht nur, es ist ein regelrechter Grossbrand. Plaffeien ist das Dorf der Traditionen, in dem das Feuer des Brauchtums – wenn es nach Antoinette Krattinger geht – noch ewig weiterbrennen soll.