«Was ich nicht alles für dich mache», lächelt Edu Stern. Der Platzwart des FC Wattenwil freut sich, wenn das junge Talent auf dem heimischen Rasen steht und ihn um einen kleinen Gefallen bittet. Hier begann die Karriere von Michèle Tschudin.
Der Lieblingsplatz
Es ist ruhig am Fussballplatz. Die Gürbe säuselt, die Vögel zwitschern und gelegentlich hört man die Schritte der Spaziergänger im Kies. Mitten in diesem Idyll sitzt eine junge Frau, von der kaum jemand ahnt, dass sie eines der grössten Fussballtalente der Schweiz ist. «Ich bin gerne da. Es ist ein Platz voller Erinnerungen, mein Lieblingsort in Wattenwil», sagt sie, während ihr Blick Richtung Berge schweift. Zu diesen Erinnerungen gehören die Spiele, die sie in den Juniorenstufen mit den Jungs bestritten hat. Oft auf dem Feld, viel im Tor, sie war von Beginn weg ein Talent mit Hand und Fuss. Dass sich die junge Fussballerin für die Aufgabe zwischen den Pfosten empfahl, verdankte sie ihrem Bruder. «Er spielt auch Fussball und stellte mich oft ins Tor, um dann auf mich zu schiessen», lacht sie und ergänzt: «Dafür bin ich ihm aber sehr dankbar.»
YB als Karrierestart
Das ist verständlich, denn es folgten die Sichtungstrainings, Regionalauswahl U15, die U16-, U17- sowie die U19-Nationalmannschaft und schliesslich die Verpflichtung bei den Young Boys. Noch beim Berner Klub nutzten die Trainer Tschudins Multitalent und sie spielte bis zur U19 in der höchsten Spielklasse der Frauen sowohl auf dem Feld als auch im Tor. Parallel kam das Nati-Aufgebot und dieses festigte die Torhüter-Aufgabe. Die Zeit bei YB war wertvoll, um Erfahrungen zu sammeln. Selbst jene, dass man nicht immer spielen kann, wenn eine Mannschaft schon eine feste Torhüterin hat. «Sie hatte keinen einfachen Weg und musste etliche Male aufgrund von Trainer-
entscheidungen auf der Bank Platz nehmen», resümiert Marcel Haucke. Man merkt dem Torhüter-Trainer des FC Basel an, dass er nicht jeden Entscheid nachvollziehen konnte. «Michèle Tschudin ist unglaublich talentiert, fokussiert und strebt eine internationale Karriere an», begründet er seine Aussage; und er muss es wissen, denn er kennt ihren Weg seit nunmehr sechs Jahren.
FC Basel als Sprungbrett
Dass sie manchmal noch im Schatten der gesetzten Spieler stand, erwähnt die Wattenwilerin mit keiner Silbe. Höflich, professionell und fokussiert, ganz wie vom Trainer beschrieben, wirkt sie auch an jenem sonnigen Nachmittag auf dem Fussballplatz. Nur der Entscheid, zum FC Basel zu wechseln, «fiel mir nicht schwer, weil ich wusste, dass ich hier die erste Position als Torhüterin einnehmen darf», erklärt sie. Das Angebot kam vom Verein selber. Der Alltag in der Fussballstadt ist straff geplant und beinhaltet meist zwei Trainingseinheiten, daneben bisher die KV-Ausbildung und zukünftig die Berufsmatura. «Es bleibt nicht viel Platz für Freizeit, aber ich habe einen tollen Kollegenkreis, der das versteht», sagt sie wertschätzend.
Frauenfussball ist nicht vergleichbar
Während die Männer in der Schweiz in der höchsten Liga von ihrem Salär leben können, sind die Frauen auf Engagements im Ausland angewiesen, um eine Profikarriere bestreiten zu können. Eine Verpflichtung im Profifussball ist erklärtes Ziel von Tschudin, mit einer leichten Vorliebe für England.
Frauenfussball entwickelt sich, aber eben nicht schnell genug. Damit eine weitere Professionalisierung stattfindet, weiss sie genau, was sich ändern sollte: «Man darf ihn nicht mit dem Männerfussball vergleichen. Die Männer sind schneller, bei den Frauen sieht man vermehrt schöne Schüsse und Spielzüge», erklärt die Torhüterin und ergänzt mit einem verschmitzten Lächeln: «Und bei uns wird weniger gejammert.» Man ist geneigt zu denken: ein gutes Argument. Frauenfussball braucht mehr Aufmerksamkeit und riskiert, wie bei anderen Sportarten, dass die mediale Aufmerksamkeit sich auch ab und an mehr um Äusserlichkeiten dreht und nicht einzig und allein um den Sport. «Das gehört wohl heute einfach dazu; trotzdem wäre es schön, wenn es vor allen Dingen um den Sport ginge», wünscht sie sich für die Zukunft ihres Sportes.
Das Vorbild
Wieder verblüfft das junge Talent. Klare Antworten und Geduld auf dem Weg zu mehr Aufmerksamkeit für den Sport, der in anderen Ländern schon längst mehr mediale Präsenz geniesst. Die friedliche Stimmung entlang der Gürbe scheint ihre ruhige Art geprägt zu haben. Zumindest teilweise. Ihre mentale Stärke rührt zusätzlich noch von einem Vorbild her: Hope Solo. Die US-amerikanische Torhüterin war Weltmeisterin und ist eine grosse Identifikationsfigur des Frauenfussballs. Schicksalsschläge und Medienwirbel haben die Rekordinternationale arg gefordert und animiert, ein Buch zu schreiben. Eines, dass im übertragenen Sinn unter dem Kopfkissen von Michèle Tschudin wohnt. «Ich bin von dieser Frau fasziniert, sie ist ein Idol für mich», erzählt sie.
Inzwischen überziehen immer mehr Cumulus-Wolken den Himmel über dem Fussballplatz. Im Hintergrund pflegt Edu Stern noch immer die Anlage. Der langjährige und treue Weggefährte des FC Wattenwil, der zudem über eine gehörigen Portion Humor verfügt, hat wohl schon so einiges erlebt. Auch den Karrierestart von Michèle Tschudin, einem Talent mit dem Potential, in die Fussstapfen der legendären Hope Solo zu treten und eines Tages selber zum Vorbild für fussballbegeisterte Frauen zu werden. Nicht als Abbild der Amerikanerin, sondern als eigenständige, authentische und willensstarke Frau. Sie trotzt den Widerständen wie das Stockhorn der Witterung, sie geht beständig ihren Weg, wie die Gürbe ihrem Flussbeet folgt, sie hebt zu Höhenflügen ab, um in die weite Welt zu gehen − wie die Vögel, die nun das Zwitschern eingestellt haben und akrobatisch über dem Fussballplatz ihre Kreise drehen.