Wir schreiben das Jahr 1816: Im Gantrischgebiet schneit es jeden Monat bis in die tiefen Lagen. Regen durchnässt an über 50 Tagen die Böden und die Temperatur bleibt konstant tief. Diesem «Jahr ohne Sommer» ging ein bitterkalter und langer Winter voraus. Was folgte, war eine grosse Hungersnot in der ganzen Schweiz. Erst vor rund 40 Jahren erschloss sich der Zusammenhang zwischen diesem Wetterextrem und dem Ausbruch des Vulkans «Tambora» im weit entfernten Indonesien.
Plan Wahlen 2.0
Dieses und andere Extremereignisse können von einem Moment auf den anderen ein ganzes System lahmlegen. Stellt sich also die Frage, wie sicher unsere 60% sind, respektive ob diese ausreichen? «Das ist ein guter Wert, der zudem seit vielen Jahren stabil ist», kommentiert Francis Egger, der Leiter des Departements Wirtschaft, Bildung und Internationales. Der Blick auf die europäischen Länder zeigt, dass die Schweiz sogar einen hohen Selbstversorgungsgrad aufweist. Drei Faktoren garantieren die Ernährungssicherheit: erstens eine starke inländische Produktion, zweitens gute internationale Beziehungen mit den Importländern und drittens die landeseigenen Vorratskammern. Was aber, wenn nun ein Extremereignis eintritt? «Dann käme wieder eine Art Plan ‹Wahlen› zum Tragen», ergänzt der Experte. Der spätere Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen erarbeitete Anfang des zweiten Weltkriegs einen Anbauplan, wonach eine Vielzahl ungenutzter Flächen per Entscheid zu Ackerflächen umfunktioniert wurden. Heute ist das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) für den Notfallplan zuständig. «Solche Pläne und Szenarien existieren und man weiss, wie viel Flächen erschlossen werden müssten», berichtet Franz Hofer. Als Geschäftsführer der «Ökonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft Bern» (OGG) führt er die Geschäfte einer Institution, die im Jahr 1759 mit dem Ziel gegründet wurde, Hungersnöte zu verhindern und sich für die nachhaltige Entwicklung des Ernährungssystems einzusetzen.
Regionalität
«Seit damals hat man den Weg von der mittelalterlichen Dreifelderwirtschaft hin zu modernen Fruchtfolgen beschritten. Der Anbau von Klee als Stickstoffbinder und die damit verbundene Ertragssteigerung ist eine Errungenschaft der Schweiz, die 250-jährig ist», nennt er ein Beispiel. Die OGG richtet ihr Augenmerk nun aber auf die kommenden 250 Jahre. «Bevölkerungszunahme und Klimawandel bringen grosse Herausforderungen», weiss er. Egger und Hofer verweisen auf den technologischen Fortschritt, der dem entgegenwirkt. Seit kurzem zunehmend darauf ausgerichtet, präziser und damit schonender zu werden. Hungersnöte oder Engpässe lassen sich damit allein aber nicht vermeiden, betont Hofer. Einen Lösungsansatz bieten die regionalen Kreisläufe. Ein Gebiet produziert, verarbeitet und vertreibt seine Produkte möglichst bei sich und importiert nur, was nötig ist. Hofer nennt zwei Beispiele, wie das gegenwärtig im Raum Bern angegangen wird: «Die Vertragslandwirtschaft liefert, was gerade zu ernten ist, direkt an die Abnehmer (Private, Läden oder Gastbetriebe), der Landwirt trägt das Risiko nicht mehr allein. Oder aber der «Gastrohub». Hier werden die Bestell- und Logistikprozesse gemeinsam erledigt. Statt dass jeder Bauer einzeln mit seinem Fahrzeug in die Stadt fährt und da eine Kiste und dort eine weitere auslädt, gelangen alle an einen Hub, von dem aus die Gastrobetriebe und Läden beliefert werden. Die Zwischenstufen werden verringert.» Solche und weitere Projekte unterstützt das «Ernährungsforum Bern», bei dem die OGG Mitglied ist. «Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel», meint Egger mit Blick auf die nationale Politik und sagt: «Der Konsument hat Rechte, aber eben auch eine Verantwortung, das fliesst nun langsam in die Politik ein. Wenn der Kunde Pouletfleisch will, kann er Schweizer Geflügel kaufen, das Futter der Tiere stammt aber grösstenteils vom Ausland. Wer ist für was verantwortlich: Angebot oder Nachfrage?, lautet hier die Frage.» Futterimporte werden bei der Selbstversorgung abgezogen, so gesehen sinken die 60% auf 55%.
Die Region Gantrisch
Also ist es interessant zu sehen, welches Futter vermehrt in der Schweiz angebaut werden könnte, aber auch, welche Nahrungsmittel bei den Konsumenten eine steigende Nachfrage haben und in der Schweiz produzierbar wären. Soja oder Quinoa zum Beispiel. «Die ersten Schweizer Produkte sind zwar anfangs viel teurer, «aber das wird sich noch besser einpendeln», ist Egger sicher. Ein solches Beispiel ist das Quinoa von Landwirt Adrian Wenger aus dem Gürbetal. Als Vorreiter einer neuen Entwicklung hat er dafür bereits den Innovationspreis gewonnen. Mehrheitlich dominiert jedoch die Milchwirtschaft in unseren Breitengraden. «Das ist das einzige Schweizer Erzeugnis, das bei der Versorgung mehr als 100% erreicht», verrät Egger. Konkret sind es 110%. Milchprodukte sind das ideale Beispiel, um aufzuzeigen, wie regionale Kreisläufe die Versorgungssicherheit besser sicherstellen können. «Die Schweiz muss stolze 30% der Milcherzeugnisse exportieren, weil vor allem beim Käse auch viel importiert wird», weiss Egger. Die vielen Käsereien in unserem Gebiet produzieren nicht nur für Emmentaler oder Gruyère, sie entwickeln nebenbei eine Vielzahl an eigenen Kreationen. Der Konsument hat also eine grosse Auswahl. Würde er diese berücksichtigen und bewusst den Käse der Region konsumieren, würde der Import von ausländischem Käse im besagten Gebiet einbrechen. Die Überproduktion könnte exportiert werden, wie das Gruyère bereits seit langem erfolgreich tut. Im Gegenzug kann das importiert werden, was im Gebiet nicht oder noch nicht produzierbar ist.
Ernährungssicherheit ist also den Extremereignissen zum Trotz eher eine Chance als eine Gefahr. Eine Möglichkeit, Stadt und Land näher zusammen zu bringen. «Nicht nur die Kreisläufe, auch die Informationsflüsse müssen funktionieren», ergänzt Hofer. Wie das regionale Ernährungssystem funktioniert, muss allen bekannt sein. Oder wie er es sagt: «Es ist einfacher, zuverlässige Informationen über regionale Produkte zu erhalten als über den Mangoanbau in Südbrasilien.» Da stimmt der Vizedirektor des Bauernverbandes zu, indem er anfügt: «Die Feuchtigkeit diesen Sommer hat beispielsweise einen Pilz befördert; den gilt es zu dezimieren und das wiederum muss man offen kommunizieren.» Regionalität bedeutet zusehends Ernährungssicherheit. Das Gantrischgebiet hat mit vielen einzelnen Aktionen begonnen, dies zu berücksichtigen. Nun geht es darum, alles noch besser zusammenzuführen und darüber zu informieren. Der Slogan dazu könnte lauten: «Der Geschmack der Heimat.»