Das Bärenkraut

Das Bärenkraut

Als das Üechtland noch von endlosen wilden Wäldern bedeckt war, hauste einst ein altes Mütterchen alleine in einer windschiefen Hütte mitten in der Wildnis. Im Herbst pflegte die betagte Einsiedlerin auf der Suche nach Brennholz oft tagelang durch den Wald zu streifen. Eines Tages entfernte sie sich dabei weiter als üblich von ihrem Zuhause. Nachdem sie bereits einen ansehnlichen Stoss guter trockener Äste zusammengeklaubt hatte, ertönte unvermittelt ein tierisches Brummen aus dem Unterholz.

Erschrocken liess die Alte das Holzbündel fallen und verbarg sich hinter dicken Baumwurzeln.

Kurz darauf trottete ein behäbiger Bär aus dem Gebüsch daher. Der urtümliche Riese hielt direkt auf den liegengebliebenen Holzballen zu und beschnupperte ihn neugierig. Die alte Frau hielt den Atem an und begann in ihrem Versteck wie Espenlaub zu schlottern, denn sie befürchtete, das mächtige Raubtier könnte ihre Witterung aufnehmen und sie entdecken. 

Doch der Meister des Waldes schien sich nichts aus ihr zu machen. Er interessierte sich vielmehr für ein seltsames Kraut, welches in der Nähe auf dem Waldboden wuchs. Vorsichtig näherte sich das gewaltige Geschöpf der Pflanze und schnaubte erwartungsvoll bei ihrem Anblick. Atemlos beobachtete die Alte das merkwürdige Gebaren des Bären, der sich nun geradezu ehrfürchtig an dem fremdartigen Kraut zu schaffen machte. Er schürzte seine haarigen Lippen und rupfte ganz behutsam ein feines Blatt vom Stängel. Anschliessend umrundete er das Gewächs und knabberte von der anderen Seite nochmals ein Blättchen weg. Nachdem er sich noch ein drittes einverleibt hatte, setzte er sich gemächlich hin und begann andächtig zu kauen. Nach einer Weile entrang sich seiner bepelzten Brust ein wohliges Grummeln, ehe er schliesslich schwerfällig aufstand – und sich wieder trollte. 

Erst als sie sich vergewissert hatte, dass der Bär wirklich verschwunden war, wagte sich die alte Frau wieder aus ihrem Unterschlupf hervor. 

Seltsam, dachte sie. Wie kommt ein wildes Geschöpf dazu, ein derartiges Aufhebens um eine einzelne Pflanze zu machen? 

Nun war die Neugier der Waldläuferin angefacht, und sie nahm das Kraut näher in Augenschein.

Nie zuvor hatte sie ein solches Gewächs zu Gesicht bekommen. Und das wollte etwas heissen, denn sie war Zeit ihres langen Lebens im Wald zuhause gewesen und kannte alles, was hier wuchs und spross.

Dieses Bärenkraut erschien ihr äusserst geheimnisvoll. Behutsam roch sie an den Blättern und an der unscheinbaren Blüte.

Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr faltiges, wettergegerbtes Gesicht. Einer unerwarteten Eingebung folgend pflückte sie selbst eine Handvoll kleiner Blätter von der rätselhaften Pflanze und schob sie sich in den Mund. 

Was dem schlauen Mutz bekommt, mag für eine alte Füchsin wie mich nicht schlecht sein. Sie kicherte vergnügt und schmatzte genüsslich vor sich hin. Wann kommt eine spinnerte Waldhäuslerin schon dazu, mit einem leibhaftigen Bären an der Tafel zu schmausen?

Das Kraut schmeckte würzig, aber sonst nahezu belanglos. Kopfschüttelnd nahm die Alte ihr Holzbündel schliesslich wieder auf und stapfte frohen Mutes heimwärts.

Bald bemerkte sie, wie sich eine wunderliche Wärme in ihrem ganzen Leib auszubreiten begann. Ob dies etwas mit dem verzehrten Bärenkraut zu tun hatte? Gleichzeitig befiel sie eine schleichende Müdigkeit, die sich allmählich bleischwer in ihren Gliedern ausbreitete. Sie gähnte herzhaft. Am liebsten hätte sie sich gleich an Ort und Stelle ausgestreckt und eine Runde geschlafen. 

Dummes Räf, schalt sie sich selbst. Das würde dir wohl nicht gut bekommen, hier einfach in den Wald zu liegen. Wenn dir die Kälte erst in die Knochen gekrochen ist, kommst du zuletzt gar nicht mehr auf die Beine.

So strengte sie sich ordentlich an und schleppte sich zurück zu ihrer Hütte. Dort wälzte sie die Bürde ächzend von ihrem krummen Rücken und stolperte in das Innere der Behausung hinein. Sie kam gerade noch dazu, auf ihren Laubsack zu kriechen und sich die Decke über die Ohren zu ziehen, dann war sie im Nu eingenickt.

Im Schlaf wanderte sie durch merkwürdige Träume. Manchmal vermeinte sie, wie einst in ihrer Kindheit unternehmenslustig durch den sommerlichen Wald zu streifen und in sprudelnden Bächen zu baden. Dann wieder forschte sie im dichten Unterholz nach leuchtenden Beeren und schleckte aus hohlen Baumstrünken den süssen Honig der wilden Bienen. Ein anderes Mal hatte sie den Eindruck, lange Zeit in einer dunklen Höhle zu liegen, die nach feuchter Erde und Wurzelwerk roch.

Als sie endlich wieder erwachte, erinnerte sie sich an den bevorstehenden Winter und an ihre dringliche Aufgabe, rechtzeitig einen ausreichenden Brennholzvorrat anzulegen. Was lag sie hier faul herum und träumte vor sich hin? Es gab noch viel zu tun, bevor der erste Schnee fiel.

Bekümmert erhob sie sich von ihrem Lager und wankte zur Tür. 

Von draussen fiel freundlicher Sonnenschein in die düstere Hütte herein. Die Vögel trällerten ausgelassen ihre fröhlichen Waldweisen. 

Irgendetwas kam der alten Frau ungewöhnlich vor. Die Luft roch anders als sonst in dieser Jahreszeit. Frisch. Duftig. Leicht.

Als sie vor ihre Hütte trat, blinzelte sie ungläubig. Alle Bäume und Sträucher ringsumher prangten im saftigen Grün frisch ausgetriebenen Laubes. Ein feiner Flor blühender Frühlingsblumen bedeckte den Boden. Die Luft war lind und lau. 

Es herrschte Frühling. Weit und breit waren keine Anzeichen des heraufziehenden Winters mehr zu erkennen.

Du meine Güte, seufzte die Waldfrau und sank überwältigt auf der Schwelle ihrer Hütte zu Boden. Ich habe den ganzen Winter verschlafen. Gerade so wie es die Bären machen…

Nach und nach dämmerte in ihr die Erkenntnis herauf: Der kluge Herr des Waldes hatte ihr ein Mittel gezeigt, mit dem er die kalte Jahreszeit zu überdauern pflegte. Sie entsann sich, was die Alten einst erzählt hatten: Dass die wilden Tiere den Menschen manchmal Hinweise darauf geben würden, wie sie sich ihr Dasein etwas leichter gestalten könnten. Da musste sie unwillkürlich schmunzeln. Und sie hatte sich vor diesem zottigen Gesellen anfänglich zu Tode gefürchtet. Dabei hatte er ihr eine hohe Gunst erwiesen.

Die alte Frau stellte bald fest, dass sie nach ihrem ungewöhnlich langen Schlummer von frischer Lebenskraft erfüllt war. Der wundersame Winterschlaf hatte ihren Leib gestärkt und ihr Gemüt beschwingt. 

So oft sie in diesem frisch angebrochenen Jahr noch durch den Wald schweifte, so fühlte sie sich jedes Mal sehr verbunden mit ihrem gutmütigen wilden Nachbarn im braunen Pelz. 

Ob sie das geheimnisvolle Bärenkraut wohl jemals wieder angetroffen hat in der Tiefe des Waldes?

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