Das Auge der Welt

Das Auge der Welt

Seit mehreren Monaten kennt Niedermuhlern einen regelmässigen Gast von Weltruf. Mario Botta verpasst keine Gelegenheit, um das Space Eye immer wieder aufzusuchen. Kein Wunder, denn der Tessiner Star-Architekt hat den eigensinnigen Bau entworfen. Er verrät in einem Gespräch, worauf der Ästhet geachtet hat.

Hanse-Stadt Hamburg, Neuenburg oder Estavyer-le-Lac haben eines gemeinsam: Ihr Stadtbild entfaltet sich am Klarsten, wenn der Blick von offener See auf die Stadt erfolgt. Diese Strategie rührt aus einer Zeit, in welcher der Seeweg die Hauptachse bildete. Heute betreten die Menschen diese Orte quasi von der Hintertür her. Doch was hat dieser kleine Exkurs an die Gewässer mit Botta und dem Space Eye zu tun? «Welche Form hat der Bau?», will der Architekt wissen. Oval. Der 80-jährige lächelt freundlich, doch seine Augen verraten: Das war als Antwort noch nicht mal an der Oberfläche gekratzt. Stimmt. Die Rundungen sind auf der schmalen Seite unterbrochen und der Beton selbst spielt mit seinen kantigen Rillen mit Sonne und Schatten. Das Lächeln wird noch etwas warmherziger, Botta nimmt beide Hände zur Hilfe und beginnt zu erklären: «Man muss das Gebäude von oben, aus dem Weltall betrachten, dann hat es die Form eines Auges.» Fast wirkt es, als stünde der Tessiner auf den Zehenspitzen, um demnächst abzuheben. In Gedanken schwebt er nun irgendwo dort, wo man ihn nur noch mit dem gewaltigen Teleskop erkennen würde. Plötzlich wird das Lächeln zu einer festen Miene und mit Vehemenz sagt Botta: «Falls es irgendwo hier oben Leben gibt, dann sehen sie hier ein Auge der Erde.» Klar, daher der Name «Space Eye». 

Doch für die irdischen Geschöpfe und deren Auge verschliesst sich der Bau nicht gerade, zeigt sich aber angepasst an seine Umgebung. «Schauen sie sich um, diese wunderbare Natur; Wald, Wiese, Hügel, Gewässer, alles fügt sich harmonisch zusammen, nichts dominiert, alles lebt nebeneinander. In dieses Gefüge muss sich so ein Bau einbinden», erklärt er und orchestriert mit seinen Händen den Gantrisch Naturpark. Eine Ode an die Natur – im Kopf beginnt die Melodie «Freude schöner Götterfunken» zu summen. Natürlich wirkt der Bau selbst nicht. Darf er auch nicht. Er symbolisiert die freundliche Absicht, mit menschlicher Technik nach Antworten zu suchen, wo sie noch fehlen. Die Bereitschaft, dabei auch komplexe Sachverhalte lüften zu wollen, vielleicht wollte Botta die kantigen Rillen deshalb an den Seiten stehen haben? Vielleicht, denn das beantwortet er nicht. Das liegt wohl im Auge des Betrachters. Doch was jedes Auge erkennt, ist, wie verspielt der Schattenwurf den Turm jeden Tag etwas anders erscheinen lässt. Die Offenheit, Neues zuzulassen, ja ihr sogar einen besonderen Platz einzuräumen. Mario Botta hat den Platz dafür geschaffen. 

Wer glaubt, Architektur sei wie eine Weinverkostung, viel Klimbim um etwas im Prinzip Einfaches, dem sei versichert: ja, das stimmt. Aber sind es nicht die einfachen Dinge im Leben, welche den Geist öffnen und die Sinne schärfen. Das ist es, was Mario Botta will, dafür steht sein Bau als Auge der Welt.

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