Bäume, wohin das Auge reicht. Der Blick aus den Fenstern seines Hauses mitten in der wilden Natur Guggisbergs zeigt die totale Abgeschiedenheit. Nur über eine kleine Brücke erreicht man sein Daheim, mitten in einer Waldlichtung. Darunter rauscht und gurgelt ein Wildbach mit zunehmendem Wasser an diesem regenreichen Tag. Sogar die sonst so fleissigen Liedersinger, die Vögel, haben sich bei diesem misslichen Wetter in die hintersten Ecken verkrochen. «Hier fühle ich mich daheim», lächelt François Mauron, als er seinen Blick aus dem Küchenfenster vorbei an Birken, Tannen und Eschen schweifen lässt. Mitten in einer Natur, die ihm schon alles abverlangt hat.
Auf Grenzen hören
Auf hohen Gipfeln, in den Tiefen der Seen, auf vereisten Schneefeldern hoch im Norden oder in den Seilen tiefster Schluchten, der Sportler hat Dinge gemacht, für die Normalsterbliche Wörter wie «Qual», «Folter» oder «Extrem» finden würden. Seine Augen hingegen leuchten, sein Gesicht erhellt sich. Doch wer nun eine Auflistung aller unwirklichen Dinge erwartet, die der mittlerweile 58-Jährige gemeistert hat, der täuscht sich. «Du musst immer wissen, wo deine Grenzen sind», beginnt er. «Früher hatte man das Gefühl, dass einem die Welt gehört, heute lernt man, kurz innezuhalten und in sich hineinzuhören. Gehe ich zu weit, übertreibe ich, was will ich wirklich?» Dann wird es ein wenig ruhiger um den Mann mit dem freundlichen Gesicht, bis er schliesslich sagt: «Heute bin ich nicht mehr so extrem.» Nun ja, das muss man ein wenig einordnen. Vor wenigen Wochen kehrte er aus dem Norden Finnlands zurück. Er beendete dort ein klassisches Langlaufrennen über 55 km in 3,5 Stunden, als 33. Und mit Verlaub – der Jüngste am Start war er beileibe nicht.
«Die Natur treibt mich an»
Angereist ist er, ohne zu wissen, ob er startet. «Doch nach ein paar Tagen auf den Skiern habe ich gemerkt, wow, ich bin bereit.» Was ihn antreibt, ist keine Medaille und erst recht keine Aufmerksamkeit in den sozialen Medien. Nein, es ist das Verschmelzen mit dem Moment, das Eintauchen in eine Natur, das Einswerden von seinem Geist, seinem Körper und der Natur. «Diese kristallene Landschaft in der nordischen Kälte, sie hat mich durch das ganze Rennen getragen.» So kommt es, dass seine grössten Leistungen in keinen Ranglisten auftauchen, sondern ein Geheimnis zwischen der Natur und ihm bleiben.
Die Energiefresser
Was er aber statt der Medaillen und Resultate mit nach Hause bringt, sind gereifte Gedanken. Erkenntnisse, die aus der Bewegung entstanden sind. Wer mit dem ehemaligen Polizisten spricht, wird bald mit Aussagen belohnt, die einen zum Nachdenken animieren. Ein Philosoph in Sportbekleidung? Mauron lacht. Denn für ihn ist das ganz normal, für Aussenstehende aber überraschen seine Aussagen immer wieder. Ein Beispiel gefällig? «Die Frage nach dem ‹Warum› ist eine schlechte Frage. Sie bringt nie eine Lösung.» Diese Bemerkung kommt ganz selbstverständlich im Gespräch über jene Zeit, als er seine unheilbar kranke Frau gepflegt und in den Tod begleitet hat. Stets im Dialog mit ihr übers Abschiednehmen, den Tod und das Leben. Er hadert nicht mit dem Schicksal, er bewegt es in die richtige Richtung. So war er der liebevollste Mann, den man sich vorstellen kann, hat viel geredet, getrauert und sich dann gefreut, frei zu sein, so wie seine Frau es nach dieser Leidenszeit ist.
Der Forstarbeiter
Doch seine Freiheit wird ihm zum heiligen Gral. Er bestimmt, wo es langgeht. Beruflich bei der SUVA, dann zum Seilpark Gantrisch bis schliesslich zum Forstbetrieb Schwyberg. Stets dort, wo es vielen schwindlig wird, er aber Weitsicht erlangt. In einem Praxiseinsatz zwischen zwei Ausbildungen traf er auf einen jungen, starken Mitarbeiter, der Mauron aufgrund seines Alters nicht ganz für voll nahm. «Wie lange willst du das hier noch machen?», fragte er ihn, als sie in den Seilen über einem Wasserfall beim Schwarzsee hingen. Seine Antwort sollte den Jüngling noch lange beschäftigen. «Solange ich Respekt habe, will ich das machen. Wenn ich Angst bekomme, höre ich auf.» Dann ging es die Seile hoch, für den «alten» Mann deutlich schneller, als es sein junger Kompanion vermochte. Maurons Gesicht erhellt sich, wenn er über all die Momente spricht, wo er hoch oben in den Baumkronen sitzt, und das macht, was andere meiden. Als «Welsch-Berner» bezeichnen ihn seine Arbeitskollegen. Auch jene, die in Guggisberg mit ihm Waldarbeiten verrichten. Aus gutem Grund, denn der Westschweizer spricht lupenreines Berndeutsch, einzig der für unsere Ohren so sympathische Akzent verleiht den Wörtern eine ureigene Melodie.
François Mauron ist in Guggisberg angekommen, liebt das Langlaufen im Gantrischgebiet, hängt in den Bäumen und haust in der wilden Abgeschiedenheit. Wer ihm begegnet, muss damit rechnen, dass der eine oder andere Satz rauskommt, der noch lange nachhallen könnte. Gereift in der Natur, entstanden aus der Bewegung. «Wir verschwenden viel zu viel Energie damit, in der Suppe einer Situation zu schwimmen, die wir nicht ändern können, statt uns weiterzubewegen.» Trump, Krieg oder KI scheinen in dieser Waldlichtung weiter weg zu sein als der Mond. Vielleicht lässt gerade deshalb seine Haarpracht etwas nach. Sie muss einer veritablen Denkerstirn und einem unglaublich freundlichen Gesicht Platz machen. François Mauron. Der Mann, der auf der Baumkrone hockt und lächelt.