Adler fliegen nicht mit Tauben

Adler fliegen nicht mit Tauben

Die Geschichte ist so ungewöhnlich, dass man sie einfach erzählen muss. Tatort: Rümligen oberhalb des Gürbetals. Opfer: etliche Hühner der Familie Burri. Der Täter: Herr Steinadler aus dem Gantrischgebiet.

«Gibt es Beweise?», will die Kommissarin wissen, ehe ein Täter als solcher bezeichnet wird. Ja, in diesem Fall gibt es sogar Fotobeweise. Sie belegen eine Geschichte, die sonst kaum zu glauben wäre.

Der etwas andere Pfiff

Der Wind streichelt die Baumkronen. Am Waldrand picken einige Hühner gackernd durch die grossen Ausläufe. Etwas abseits liegt das Bauernhaus der Familie Petra und Tinu Burri. Idyllisch und trotzdem nur einen Flügelschlag von der Kantonsstrasse entfernt. Was ist das für ein Pfeifen? Es klingt anders als jenes vom Mäusebussard. Kann das sein? Nein, das kann doch nicht sein? Oder doch? Ein Adler, hier in Rümligen, weit weg von seinen angestammten Jagdgründen im Gantrischgebiet? Petra Burri hört genau hin. Die Hobbyornithologin beschliesst, jenen Mann hinzuzuziehen, der ermitteln soll: Kommissar Wildhüter Yves Portmann. Doch plötzlich gesellt sich ein zweiter Pfiff dazu. Zwei Adler? Oft wachsen zwei Geschwister in einem Adlerhorst auf; überleben tut aber meist nur eines. Vermeintliche Adlergeschwister in den Baumkronen über den Hühnern. Wildhüter Portmann bestätigt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hierbei um Adler handeln könnte. Ein Verdacht, aber noch keine Beweise.

Hühner als Schutzbefohlene

Doch die Indizien sprechen dafür, dass die Adler vermutlich nicht dasitzen, um die Aussicht Richtung Belp zu bewundern. Die Hühner sind im Fadenkreuz der Adleraugen. Höchste Zeit, die Ausläufe noch mehr zu schützen als bis dato gegen Fuchs und Co. «Der Wildhüter hat uns mehrere Tipps gegeben», erinnert sich Petra Burri. Und das Ehepaar setzte sie alle um. Die Idylle am Fusse des Waldes wich einem bunten Treiben, das schon fast an einen Kindergeburtstag erinnerte. Drachen, Ballone, Bänder, Radio – nichts durfte fehlen. Das alles nützte nur eine knappe Woche, dann hat der Adler die Vergrämung enttarnt. Die ersten Hühner fallen dem grossen Greifvogel zum Opfer.

Sturzflug und Bruchlandung

Die Sicherheitsvorkehrungen werden bei Burris weiter verschärft, schliesslich steht der Winter vor der Türe. Noch mehr Bänder und eine neue Konstruktion sollen den Einflug in die Ausläufe verunmöglichen. Ahnen Sie es? Sie haben natürlich recht. Der Adler findet einen Direktflug ins Hühnergehege und kann erneut Beute machen. Doch diesmal hat er eines genauso wenig bedacht wie Petra und Tinu Burri: dass er auch irgendwie wieder wegkommen, sprich abheben muss. Ein Adler mag ein Jagdflieger in der Luft sein, wenn er aber vom Boden aus starten muss und nicht von einem erhöhten Platz, gleichen die Startveruche eher jenen einer behäbigen Transportmaschine. Der Steinadler steht nach ein paar Versuchen erschöpft mitten unter den Hühnern. «Wir müssen etwas unternehmen», sagt Petra zu ihrem Mann. Dieser beschliesst, dem grossen Vogel zu helfen und ihn aus der misslichen Lage zu befreien. Kein einfaches Unterfangen. Vier Kilo und eine Flügelspannweite von zwei Metern aufzunehmen, bedeutet für Tinu Burri einiges an Aufwand auf dem schneebedeckten Auslauf. Noch während Petra Burri Fotos macht, um die Beweise zu sichern und den Täter zu überführen, startet Tinu den Versuch. Mit Erfolg. Er kann den Adler in seine Arme aufnehmen. «Ein unglaubliches Gefühl», erzählt er. «Ich streichelte ihn und beruhigte ihn», bis er den erschöpften König der Lüfte schliesslich behutsam auf das freie Feld nebenan setzt.

Adler statt Mäusebussard

Lange macht der Steinadler keine Anstalten, wegzufliegen. Das besorgt Burris zusehends. Erneut ziehen sie Kommissar Wildhüter Portmann zu Hilfe. Dieser empfiehlt, eine Apfelkiste über den Vogel zu legen, damit man diesen transportieren und an einen Ort bringen kann, wo er einfacher abheben kann. «Ich begab mich gerade mit der Holzkiste auf das Feld, als der Adler seine Flügel ausbreitete und abhob», schildert Tinu erleichtert. So schnell würde der Greifvogel wohl nicht mehr vorbeikommen, möchte man meinen. Von wegen. Es dauert nicht lange, bis der Adler zurückkehrt. Ein Wiederholungstäter? Aber sicher doch. Einer, den Burris nun aber gewähren lassen. Einer, der nicht zur Strecke gebracht wird. Weshalb nur? «Der Adler hat die nötige Grösse, ergreift ein Huhn und fliegt von dannen. Wir aber kennen die Probleme mit dem Mäusebussard. Dieser landet und pickt ein Huhn zu Tode, ohne es wirklich zu fressen. Wird er nicht vergrämt, macht er sich an das nächste heran. Das ist grausam», erklärt Petra Burri. Die Landwirte haben also lieber einen Adler, der hin und wieder ein Huhn ergreift, als den weitaus brutaleren Mäusebussard.

Ein Täter wird zum Freund

Das majestätische Tier und die nachsichtigen Burris haben sich arrangiert. Fall «Adler» bleibt gewollt ungelöst. «Kürzlich flog er zwei Meter neben mir vorbei. Da erschrickt man ganz schön, wenn er plötzlich auftaucht», verrät Petra Burri. Man kennt sich. Zwei Adler waren es seit dem Beginn dieser Geschichte jedoch nie mehr. «Auch das Pfeifen hat aufgehört», weiss die Landwirtin. Aber inzwischen kennen auch Burris ihren ungewöhnlichen Besucher: «Wenn er am Himmel auftaucht, schlagen die anderen Vögel Alarm, das sind Vorboten, dass er wohl im Anflug ist.» Ein Adler ist eben der König der Lüfte. Ihre Majestät wird angekündigt. Seine Fähigkeiten, seine Cleverness und seine faire Art des Jagens beeindrucken Burris. Aber der erhabene Einzelgänger gönnt sich ab und zu etwas Nähe zu zwei verständnisvollen Landwirten. Alle anderen Geschöpfe sind ihm egal – ein Adler fliegt nicht mit Tauben.

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Adler fliegen nicht mit Tauben

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