Vom lätze Hängscht zum echten Ochsen

Vom lätze Hängscht zum echten Ochsen

«Bäreloch», «Fustern», «Halbsack», «Hundsrück», «Nüchteren». Flur- und Ortsbezeichnungen regen die Fantasie an. Und das müssen sie auch, denn «die Ortsbezeichnungen der neuen Landeskarte Blatt Gantrisch waren uns zu wenig genau.» Diese Aussage aus dem Periodikum der Naturforschenden Gesellschaft Bern stammt aus dem Jahre 1956. Bis heute gilt: Vielerorts ranken sich Mythen und Volksmund um die Entstehung der Bezeichnungen.

«Sitevorschis»; ein Schelm, wer Böses denkt. Diese Flurbezeichnung eines Stücklein Landes zwischen Steinbach und warmer Sense, unweit von Zollhaus, erinnert nicht etwa an unappetitliche Flatulenzen eines Senslers, der unvernünftig viele «Büschelibire» verspiesen hat. Nein, es bedarf des Altdeutschen um zu erahnen, dass es sich um eine vorgezogene Seite handelt, die beim Zusammenfluss der beiden Gewässer die Landschaft geformt hat.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Der Sensebezirk kennt viele Namen, die haarscharf an einer unschönen Aussage vorbeischrammen. Oberschrot zum Beispiel hat aus heutiger Sicht Glück, dass nur ein «t» die Bezeichnung beendet. Und alt ist der Witz, wonach etwas weiter talwärts der Pilger durch Lustdorf wandert, anschliessend Angstdorf erreicht, um dann endlich die Kapelle von Mariahilf zu erreichen. Doch all jene Berner, die sich nun genüsslich zurücklehnen, seien gewarnt: Denn weshalb gibt es in Sangernboden nur einen «Halbsack» oder wo ist der volle? Und waren alle benachbarten Gebiete der «Nüchteren» in Rüschegg eben gerade nicht immer so nüchtern? Und wer die Geschichte rund um den Hof «Fustern» in Guggisberg kennt, der weiss, dass es durchaus Zeiten gab, in denen dort «gefustet» wurde. Und damit sind sind nicht unbedingt die Fingerfertigkeiten des einstigen Schumachers gemeint, sondern jene der später dort lebenden Menschen.

Mehr als 5000 Namen

Es sind oft nicht Geschichen, die sich um die Flur- oder Ortsbezeichnungen ranken, sondern Erzählungen. Je nachdem wie kleinmaschig man im Gantrischgebiet diese Namen herauszieht, sind es rund 5000 oder etwa zehn verschiedene innerhalb eines Quadratkilometers der Fläche. Nun könnte man einzelne herausrücken und deren Entstehung erklären. Das gelingt bei einigen, basiert auf Annahmen bei anderen und entgleitet bei weiteren gänzlich in die Welt der Spekulationen. Und weil Sie als geneigte Leserin oder Leser dieser Zeitung vermutlich Ihre ganz eigenen Flurbezeichnungen vor der Haustüre kennen und vielleicht erahnen möchten, woher sie stammen oder ob die Legenden, die man sich darüber erzählt, stimmen könnten, soll ihnen eine kleine Hilfestellung gegeben werden, wie sie hierbei vorgehen können.

Spiegel der Geschichte

Zuerst unterscheidet die Kulturgeschichte zwischen Orts- und Flurnamen. Orte kann man als Spiegel der Geschichte bezeichnen. Sie verweisen auf Siedlungen und ihre Bewohnenden. In vielen Fällen gibt die sprachliche Form des Namens Auskunft darüber, wann ungefähr der entsprechende Ort gegründet wurde. Wenn eine Siedlung verschwindet, bleibt der Name manchmal als Flurbezeichnung an der Stelle haften. Der Begriff Wil etwa meint einen Weiler. Zum Beispiel Hermiswil. Der Weiler ist nach wie vor in Takt und verweist auf die ehemaligen Bewohnenden der Siedlung. Im Althochdeutschen geht Hermis auf den Namen Hariman zurück. Vermutlich der Gründervater oder eine prägende Figur dieses Weilers, der heute zu Riggisberg zählt.

Spiegel der Landschaft

Flurnamen hingegen weisen seltener auf die Geschichte oder Herkunft hin, verraten dafür mehr über die Landschaft. Wenn sich die verändert, bleiben diese häufig als einzige Zeugen auf die früheren Verhältnisse übrig. Moos, Ried, Miesch, Schlatt, Lische, Rohr bezeichnen sogenannte Feuchtgebiete. Das verrät, wie es wohl früher aussah, etwa in Lischen bei Wattenwil, im Schlatt zwischen Oberbalm und Köniz oder Helgisried sowie Rohrbach. Besonders häufig taucht der Name Moos auf. Das Stiegmoos beim Gurnigelbad zum Beispiel oder das Fromoos in Riggisberg. Hier waren die Menschen übrigens nicht besonders froh, dass es sumpfig war, Fro stammt aus dem Althochdeutschen und bezeichnet vielmehr ein Herrengut. Und wenn man schon bei den witzigen Bezeichnungen rund um die vielen sumpfigen Landschaften verweilt, noch so viel: Wattenwil hat sehr viele solcher Bezeichnungen, klar, es liegt im Schwemmgebiet der Gürbe. Doch es gibt so viele, dass es sogar ein Aftermoos gibt. Das bedeutet übrigens nichts Anrüchiges beziehungsweise schlecht Riechendes, sondern einfach das andere Moos oder dasjenige, das nebenan liegt. «After» stammt aus dem Lateinischen und dann Althochdeutschen und bedeutet nebenan, wird aber schon lange nicht mehr verwendet.

Sprachliche Versteinerungen

Das Verweilen bei den sumpfigen Namen hat einen Grund. Flurnamen können verbindende Elemente werden, welche Landschaft und Mythologie in Einklang bringen. Es sind gerade die Moorgebiete, die eine Fülle an alten Sagen und Mysterien kennen. Nebelschwaden werden zu Geistern. Das Gantrischgebiet hat ein Füllhorn davon, Sagenerzähler und Autor Andreas Sommer wird im kommenden Frühjahr ein Buch herausgeben, das all diese Sagen zusammenträgt. Eine besonders nebulöse mag diejenige vom «Däle Griini» sein. Mit «Däle» meinte man im Sensebezirk früher eine Föhre, ist hier jedoch eine Flurbezeichnung einer Mooslandschaft in Oberschrot. «Griini» ist eine klagende, wimmernde Frau, vergleiche dazu den Begriff «Gränne». Der Sage nach geisterte das «Däle Griini» des nachts umher und man erkannte das kleine Lichtlein von ihr. Nachdem sie alleine nach Oberschrot gezogen war, bald daraufhin ein Kind gebar und dieses im Sumpf umbrachte, verstarb die Frau. Ihr Geist jedoch ist im «Dälemoos» geblieben, der Herrgott habe sie nicht in den Himmel gelassen, seither geistert sie umher. Längst ist das Moos bei Oberschrot drainagiert und das Lichtlein erloschen. Geblieben ist aber die Flurbezeichnung «Däle». Sprachlich mag diese Schreibweise falsch sein, zumal sich die Sprache im Laufe der Generationen wandelt. Viele alte Flurbezeichnungen gehen gar auf das Althochdeutsche des 13. oder 14. Jahrhunderts zurück. Der Klang war anders und manche Bedeutungen sind heute unbekannt. Wenn nun ein solches Wort in einen Flurnamen einging, konnte es, wie eine sprachliche Versteinerung, bis in die Gegenwart weiterleben.

Das heutige Gebiet des Naturparks Gantrisch bindet Plaffeien mit all seinen Weilern und Dörfern mit ein. Dass diese grenzübergreifende Vereinheitlichung des Gebiets schon seit jeher bestand, davon zeugen viele geschichtliche Spuren. Der Salzhandel bei Sangernboden etwa. Es gibt aber auch eine sprachliche Versteinerung eines Wortes, die bis heute überlebt hat und nur in diesem Gebiet, sowohl auf der Berner wie auch auf der Senslerseite, bekannt ist. Sonst nirgends. Gemeint ist der Tummer, der zweirädrige Bretterkarren, der für weniger gut Betuchte ein gängiges Transportmittel war. Das Wort geht auf das Französische zurück und stammt von «Tomberau», was natürlich genau dasselbe bedeutet. Dieses Beispiel spannt den Bogen über das ganze Gebiet: Ob Orts- oder Flurnamen, im Gantrischgebiet stehen sie für geschichtliche, landschaftliche und sprachliche Begebenheiten. Sie sind Zeitzeugen. Mancherorts klar erklärbar, andernorts schaffen sie Raum für Spekulationen. Und das ist ja eigentlich schön so. Ob es deshalb neben dem lätzen Hengst einen echten gibt, weshalb der lätze nicht Wallach heisst und ob es Zufall ist, dass unmittelbar in der Nähe dieses Berges die Märe (Stute) steht, dicht daneben der Ochsen und ob jemals jemand wie ein Ochs am Berg stand, das alles werden wir im Detail nie erfahren. Mythen, Geschichten und Legenden ranken sich um diese Namen wie Efeu um die alten Gemäuer einer verlassenen Burg. Willkommen in einer der mystischsten Gegenden der Schweiz, willkommen im Gantrischgebiet, im Nuitonia, im Niemandsland.

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