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oling beeilte sich, die verstörten Tiere zusammenzutreiben und in die Sicherheit des Stalles zu schaffen. Die unablässig züngelnden Blitze und das fürchterliche Donnerkrachen versetzten die Kühe in grosse Aufregung, und der junge Hirte hatte grosse Mühe, sie von einer panischen Flucht in gefährliches Gelände abzuhalten. Da kam ihm von der Bergeshöhe herab unerwartet eine fremde Gestalt zu Hilfe, welche die verängstigten Tiere mit einem feinen Singsang beruhigte. Gemeinsam schafften sie es, die Herde einzutreiben und dem ungebärdigen Toben der Elemente zu entziehen. Erleichtert bat Coling seinen geheimnisvollen Helfer nach vollbrachter Tat in die Hütte, um sich an der Feuergrube aufzuwärmen.
Zu Colings Erstaunen entpuppte sich der merkwürdige Besucher im Schein des Feuers als junge Frau von fremdartiger Schönheit. Ihr nässetriefendes Haar war von blauschwarzer Farbe wie Rabenschwingen und fiel ihr dicht und lang bis zur Hüfte hinab. Sie trug eigenartige Wildlederkleidung, wie sie in dieser Gegend nirgends gebräuchlich war. Am meisten verwunderten den Hirten aber die Gesichtszüge der Fremden, welche mit nichts zu vergleichen waren, was er je gesehen hatte. Sie erwiderte die Dankesworte des Jünglings in einer unverständlichen Sprache, wovon Coling nur «Biriberihaza» verstand. Er ging davon aus, dass dies ihr Name sei und nannte sie fortan so.
Die Bergfrau blieb nämlich bei dem jungen Hirten und erwies sich als geschickte und kundige Helferin. Unter ihrer Obhut gedieh das Vieh prächtig und wurde nicht mehr krank. Wenn sich eines der jüngeren Tiere in unzugänglichem Gelände verirrte, lenkte sie es sicher wieder zurück in den Schutz der Hütte. Auf schwindelerregend hohen Fluhbändern mähte sie würziges Wildheu und ihr wohlklingender Gesang erklang immerzu weithin über Matten und Wälder. Wie ein unsichtbarer Zauber umfing die Gegenwart dieser feenhaften Küherin Colings Berg – und bald auch sein Herz. Obgleich er die Sprache von Biriberihaza nicht kannte, vermochte er sich mit seiner neuen Gefährtin bestens zu verständigen. Im Keller reiften in diesem Sommer die besten Käse seit jeher und der Hirtenbursche spürte mit grosser Dankbarkeit den Segen, welcher mit der schwarzhaarigen Frau auf seiner Alp eingekehrt war.
Eines Tages stieg Colings Vater aus dem Tal herauf, um nach seinem Sohn zu sehen. Die Heftigkeit der vergangenen Gewitter und die Tatsache, dass der junge Bursche noch unerfahren war, hatten ihn etwas beunruhigt, und er wollte sich vergewissern, ob sein Sohn in der Bergeinsamkeit wirklich zurechtkam. Zu seinem Erstaunen fand der alte Bauer in der Alphütte alles in tadelloser Ordnung vor. Das Vieh machte einen höchst gesunden Eindruck, das eingebrachte Winterfutter quoll beinahe aus allen Ritzen der Heuschober und die goldgelben Käse waren von nie gesehener Fülle. Verwundert betrachtete er seinen Sohn, der hingebungsvoll und mit einem friedlichen Glanz in den Augen beim Käsen war. Als er den Jüngeren darauf ansprach, wie er dies alles ganz alleine zustande gebracht habe, deutete Coling lächelnd auf das Heulager in der Ecke, wo Biriberihaza schlief.
Der alte Bauer erschrak beim Anblick der schwarzhaarigen Frau mit den befremdenden Gesichtszügen und der unbekannten Tracht.
«Junge, was ist das für ein Weib?», fuhr er seinen Sohn erschrocken an. «Doch nicht etwa eine Heidin aus der Bergwilde? Das sind verdammte Seelen, die den rechten Weg längst verloren haben.»
Coling schüttelte ruhig den Kopf und erklärte seinem Vater, dass Biriberihaza ihm eine tüchtige Helferin sei und ihn mit grosser Glückseligkeit erfülle.
Durch das Gespräch der beiden Männer erwachte die junge Frau plötzlich und blickte geradewegs in das hassverzerrte Gesicht des alten Bauern. Als sie ihre feine Stimme erhob, waren ihre Worte zu Colings Erstaunen nun für alle im Raum zu verstehen. «Warum bist du nur gekommen, alter Mann?», fragte sie mit ihrer melodiösen Stimme an den Älteren gewandt. «Wäre ich weiterhin unbemerkt geblieben, wäre ich deinem Sohn hier oben bis zum Ende des Sommers beigestanden und hätte sein schönes Herz noch mehr zum Blühen gebracht. Nun hast du mich aber entdeckt und meines Bleibens ist nicht mehr länger hier.» Behände richtete sie sich auf und nahm mit einem Lächeln Abschied von ihrem Gefährten. Dann huschte sie durch die offene Tür hinaus und entschwand rasch wie ein Schatten gegen das Gebirge hinauf.
Coling war untröstlich und suchte bis tief in die Nacht hinein nach Biriberihaza. Er rief ihren Namen über Berg und Tal, bis er heiser wurde. Zu seinem Leidwesen tauchte sie nicht mehr auf.
Aber wenn er in der nachfolgenden Zeit das Vieh molk oder im Feuerhaus käste, konnte er manchmal ihre geheimnisvolle Gegenwart fühlen. In stillen Nächten vermeinte er sogar ihren Gesang zu vernehmen, der um die Hütte strich. Obwohl er sie sehr vermisste, lebte sie in seinem Herzen fort und begleitete ihn unsichtbar auf Schritt und Tritt. In der Nacht vor dem Viehabtrieb vernahm er wiederum ihre glockenhelle Stimme im lauen Wind, welcher um die Hütte säuselte. Er glaubte, sie seinen Namen rufen zu hören.
Als er draussen Nachschau hielt, fand er wie befürchtet niemanden. Dafür fiel der Schein seiner Laterne auf eine schöne Kappe, die am Türpfosten hing. Sie war aus demselben geschmeidigen Leder gefertigt wie das Gewand der Wildfrau, in weisser, schwarzer und roter Farbe, mit funkelnden Gold- und Silberfäden durchwirkt. Sogleich erkannte Coling, dass seine Gefährtin ihm ein Zeichen hinterlassen hatte. Lächelnd setzte er die Gabe auf seinen Kopf und spürte, wie die Gewissheit eines erfüllten Lebens ihn wie ein Segen durchströmte.
Bis in sein hohes Alter sah man Coling stets mit dieser fremdartigen Kopfbedeckung einhergehen. Er blieb zeitlebens ein stiller und bescheidener Mann, der die friedliche Einsamkeit der Berge der Gesellschaft anderer Menschen vorzog. Und obwohl er von ansehnlicher Gestalt war und ein unvergleichlich tüchtiger Küher, liess er sich mit keiner anderen Frau ein und starb als glücklicher Junggeselle.
Manche munkelten freilich, Biriberihaza habe sich ihrem Gefährten später wieder jeden Sommer zugesellt und mit ihm gemeinsam das Vieh gehütet. Weil dieser das Geheimnis aber nun zuverlässig wahrte, gibt es hier auch nichts mehr darüber zu berichten.
Frei nacherzählt nach German Kolly und anderen Quellen.