Wanderbare Wunderwege

Wanderbare Wunderwege

Das Wandern sei hierzulande Volkssport Nummer eins, wird gerne postuliert. Ob entlang von gelben, rotweissen oder gar blauweissen Wegmarkierungen, auch am Gantrisch führen vielerlei Routen durch Wald und Flur. Über Wege von A nach B, über Streckenlängen und Höhenmeter inklusive Sehenswürdigkeiten und Einkehrmöglichkeiten erteilen einschlägige Publikationen hinreichend dienliche Hinweise. Die nachfolgenden Zeilen möchten jedoch dazu anregen, sich anders durch die heimische Landschaft zu bewegen – und dabei das gewohnte Terrain für einmal zu verlassen.

Wenn der Wandervogel in uns lockend trällert, dann machen wir uns in der Regel zunächst einmal ein paar Gedanken über mögliche Ziele und Routen, wir legen einen Zeitrahmen fest, packen das Nötige ein und checken die öV-Verbindungen. Im Zeitalter des digitalen Navigators braucht es dazu nicht einmal viel Vorbereitung, denn wir können uns unterwegs fortlaufend mit allen erforderlichen Informationen versorgen. Einige von uns schätzen das gesellige Unterwegssein und umgeben sich gerne mit anderen Wanderfreudigen, weitere ziehen bewusst alleine los, um sich von allen sozialen Zwängen losmachen zu können – aber fast immer wissen wir bereits im Vorfeld, wohin es gehen soll. Sobald wir unseren Ausgangspunkt verlassen haben, bewegen wir uns Schritt für Schritt auf ein vorgängig definiertes Ziel zu. 

Entschleunigung

Das Gehen zu Fuss ist für uns Menschen die denkbar langsamste Form der Fortbewegung. Und zugleich die natürlichste. Ohne mechanische Unterstützung ist unsere Reichweite zwar stark eingeschränkt, dafür lassen wir uns auf den Rhythmus ein, der uns am nächsten ist, weil er allein den Möglichkeiten unseres eigenen Körpers entspringt. In einer Welt, in der sich Ereignisse immer dichter aneinanderreihen, in der wir fast pausenlos von einem Programmpunkt zum nächsten hetzen und uns angewöhnt haben, selbst die Zeiten dazwischen noch mit nutzbringenden Tätigkeiten auszufüllen, wohnt dem gemächlichen Unterwegssein auf Schusters Rappen etwas geradezu Archaisches inne. Aus dem Blickwinkel der Leistungsgesellschaft ist es eigentlich sogar höchst ineffizient, seine Gangart auf Fussgängertempo zu reduzieren. Aber warum ist der Reiz des Wanderns wohl gerade in der heutigen Zeit ungebrochen? Vielleicht weil wir dadurch die Gelegenheit erhalten, aus dem rasanten Räderwerk alltäglicher Verpflichtungen auszuscheren? Weil wir spüren, dass «Entschleunigung» eine wohltuende Massnahme gegen Stress und Resignation ist? Weil uns das freie Gehen unsere Autonomie und unsere Selbstwirksamkeit vor Augen führt? 

Rückverbindung

Viele Wanderungen führen uns hinaus in die unverstellte Landschaft. In eine Umgebung, die ausschliesslich mit den Gesetzmässigkeiten der Natur schwingt und unbeirrt von menschlichen Interessen ein geheimnisvolles Eigenleben führt. Gerade in Angehörigen moderner Industriegesellschaften, deren Lebensumstände mehrheitlich durch künstliche Bedingungen vorgezeichnet werden, regt sich zunehmend das Bedürfnis, wieder an das Elementare, Einfache und Authentische anzuknüpfen. Denn trotz aller zivilisatorischen Errungenschaften sind wir nach wie vor natürliche Wesen und Teil eines weltumspannenden lebendigen Gewebes, welches uns nährt und trägt, welches uns Schönheit, Symbiose und Balance vorlebt – und welches uns vor allem in eine irdische Heimat einbettet. Jeder Aufenthalt in einem naturnahen Umfeld erinnert uns an unsere Zugehörigkeit zu einer über das Menschliche hinausgehenden Lebensgemeinschaft, die unabhängig von unseren eigenen Ambitionen und Perspektiven aus sich heraus existiert. Sämtliche Mythen der alten Kulturen nennen den Menschen ein Kind von Himmel und Erde und betonen seine Verwandtschaft mit allen lebendigen Wesen der Schöpfung. Sobald wir losziehen, um in den Wald oder auf den Berg zu wandern, durchschreiten wir gleichsam eine mythologische Grenze. Jeder Aufbruch von unserem sorgsam kultivierten Daheim in die Welt jenseits des vertrauten Gartenzauns hat in diesem Sinne etwas Magisches an sich – denn er widerspiegelt den uns zutiefst innewohnenden Drang, uns mit einer grösseren Lebenswirklichkeit rückverbinden zu wollen.

Der Weg ist das Ziel

Genau an diesem Punkt möchte ich nun ansetzen und die Einladung an Sie formulieren, Ihre nächste Wanderung wie ein solches «Über die gewohnten Grenzen Hinausgehen» zu zelebrieren. Ohne vorgängig festgelegte Vorstellungen, wohin, wie weit und unter welchen Rahmenbedingungen sich diese Unternehmung erstrecken soll. Ich plädiere für das absichtslose Unterwegs-Sein, für das unbefangene Sich-Treiben-Lassen, für spontanes Verweilen und für das ungezwungene Zusammenspiel mit dem kindlichen Entdeckergeist in uns. Sobald wir ein konkretes Bild in uns fixieren, welchen Weg wir wählen und auf welches Ziel wir uns zubewegen sollen, schränken wir die Möglichkeiten für wundersame Erlebnisse nämlich bereits erheblich ein. «Man erfährt, wohin man gehen soll, indem man geht», schrieb der Dichter Theodor Roethke. Wie wäre es, wenn Sie demnächst lediglich den Ausgangspunkt Ihrer Wanderung im Voraus festlegen – und sich dann einfach von Ihrem «inneren Kompass» leiten lassen? Wenn Sie die markierten Wege gelegentlich verlassen und ziellos durch den Wald streifen? Vertrauen Sie sich dem inneren Kind in sich an, welches über die Wunder der Natur bestens Bescheid weiss. Lassen Sie sich von einem Ort, einem Wesen, einem Phänomen anziehen, welches Sie fasziniert, in Erstaunen versetzt oder Ihnen einfach ein Gefühl von Wohlbefinden vermittelt. Und gönnen Sie sich die Freiheit, dort solange zu verweilen, wie es Ihnen guttut. Erfahren Sie, wie es sich anfühlt, selbst ein Teil des Weges zu werden und mit dem Land zu verschmelzen.

Dialog mit Natur und Seele

«Das Wandern in der Natur ist für den zeitgenössischen westlichen Menschen vielleicht die wirksamste Form, Zwiesprache mit seiner Seele zu halten.» So formulierte es der amerikanische Wildnistherapeut Bill Plotkin, lange bevor das «Waldbaden» im Westen salonfähig wurde. Um mit dem Wilden und Archaischen in Kontakt treten zu können, müssen wir jedoch nicht in entlegene Regionen reisen. Auch vor unserer Haustür entfaltet sich die «Wilde Welt» noch in unzähligen kleinen und unscheinbaren Arealen. Jeder Wald, sei er noch so intensiv genutzt, birgt Tore in das ursprüngliche Reich der Natur, jeder blühende Wegrain, jeder Grashalm, der durch eine Spalte im Strassenbelag drängt, jeder Spatz auf dem Dachtrauf. Der Zaun, welcher das Kultivierte vom Wilden scheidet, existiert allein in uns drinnen. Es reicht, unsere Gangart und die Betrachtungsweise zu ändern, um diese Schwelle jederzeit überschreiten zu können. Langsamkeit, Achtsamkeit und Stille sind probate Schlüssel dazu. Sobald wir alle Sinne weit machen für die natürlichen Reize der lebendigen Mitwelt, öffnet sich unser Fokus automatisch. Dies gelingt umso einfacher, wenn wir uns alleine auf ein solches Abenteuer begeben, weil wir uns dann nicht dem Zwang ausgesetzt fühlen, Konversation betreiben zu müssen oder uns von zivilisationsbedingten Hemmungen einschränken zu lassen. Aber auch in einer Gruppe gleichgesinnter Mitreisender kann ein solches Erlebnis tief berührend sein, zumal in einem gemeinsamen Gefäss ein anschliessender Austausch über das Erlebte möglich wird. Wenn Sie da draussen plötzlich das Gefühl haben, innerlich blockiert zu sein, gehen Sie in unmittelbare Berührung mit der natürlichen Welt: Fassen Sie das Moos oder die Baumrinde an, atmen Sie bewusst die aromatisierte Waldluft ein, gehen Sie ein Stück barfuss, legen Sie sich flach auf den Boden, betrachten Sie eine Blüte einmal ganz lange und innig, riechen Sie an modrigem Holz oder feuchter Erde, schliessen Sie die Augen und lauschen Sie den Geräuschen, die um Sie herum erklingen. Und lassen Sie ihrer Vorstellungskraft freien Lauf, wenn inmitten all dieser Lebendigkeit Gesichter und Gestalten auftauchen. Plötzlich erwacht das Land zum Leben. Und die Natur in Ihnen beginnt zu vibrieren. Dann ist es unerheblich, wie viele Kilometer Sie an diesem Tag zurückgelegt oder ob Sie Ihr anvisiertes Ziel erreicht haben. Plötzlich zählt alleine das Hier und Jetzt. Und das Wandern verschmilzt unwillkürlich mit dem Wundern.

Wie? Sie glauben mir nicht? Nun, am besten probieren Sie es einfach selbst aus. Gleich an Ihrem nächsten freien Tag. Denn der direkte Weg nach drinnen führt bisweilen zunächst nach draussen. Und genauso umgekehrt.

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