Sieben verwunschene Nägel

Sieben verwunschene Nägel

Im Guggisberg lebten die Bauern einst in guter Nachbarschaft mit dem Kleinen Volk. Oft traten die Zwerge in Erscheinung, wenn die Leute in Not waren oder wenn sich jemand in den endlosen Wäldern verlaufen hatte. Dem Volksmund zufolge befand sich auch in den Unterbalmflühen am Laubbach ein Eingang in ihr verborgenes Reich. Dieser Höhleneingang ist heute noch zu sehen und wird nach wie vor nach seinen einstmaligen sagenumwobenen Bewohnern benannt.

Unweit dieses Felsenportals befindet sich ein Gehöft. Dort soll vor Zeiten einmal eine fleissige Bäuerin gewohnt haben, welche köstliche Butter zu schlagen wusste. Für diese Kunst war sie in der Gegend weithin bekannt. Auch die Zwerge, welche ausgemachte Schleckmäuler waren, schätzten diese Speise sehr. Da die Bäuerin ein gutes Herz hatte, legte sie ihren kleinen Nachbarn jedes Mal, wenn sie das Fass geleert hatte, eine Gebse voll frischer Butter vor ihre Höhle. Den Rest packte sie indes möckchenweise in ihre Hutte und trug die Ware in das Landgericht, um das begehrte Milcherzeugnis aus den Bergen dort zu verkaufen.

Die Zwerge hätten aber gerne mehr von dieser unvergleichlich süssen Butter genascht und überlegten fieberhaft, wie sie die Bäuerin dazu bewegen konnten, ihre freundlichen Gaben zu erhöhen. In ihrer Ratlosigkeit suchten sie einen alten legendären Zwergenschmied auf, welcher unter dem Berg für seine List und seine Zaubermacht berühmt war. Sie erklärten diesem ihre Lage und baten ihn um Hilfe. Der Schmied schien sich über die Gelüste seiner jungen Kameraden zu amüsieren, aber da er gutmütig war, übergab er ihnen schliesslich sieben kleine Nägel mit der entsprechenden Anweisung, wie sie zu verwenden waren.

Als die Unterbalm-Bäuerin wieder einmal frische Nidel in ihr Butterfass schöpfte, um sich ihrem Handwerk zu widmen, erschien unvermutet eine Handvoll Zwerge in ihrer Kammer und blickte sie treuherzig an.

«Meisterin, du hast doch wieder einmal Gutes im Sinn», säuselte der Wortführer der kleinen Schar artig. «Und weil du uns immer so freundlich teilhaben lässt an deiner Wunderspeise, wollen wir dir heute etwas Besonderes schenken.»

Da streckte er ihr die sieben kleinen Nägel entgegen und lächelte bedeutungsvoll.

«Wenn du dein Werk vollendet hast, musst du sogleich diese Nägel in dein Butterfass schlagen – das wird den Ertrag auf wundersame Weise steigern und den Geschmack der Butter ungleich versüssen.»

Die gerührte Bauernfrau bedankte sich für diese unerwartete Gabe und machte sich alsbald an die Arbeit, derweil die schlauen Naschbolde frohlockend ihren Rückweg antraten.

Singend stampfte die Bäuerin ihre Nidel und freute sich darauf, das Geschenk ihrer kleinen Wohltäter sogleich auf die Probe zu stellen. Sie besorgte sich einen Hammer und begann den ersten Nagel in das weiche Holz des Fässchens zu treiben.

«Was soll das werden?» schnarrte unvermutet eine mürrische Stimme hinter ihrem Rücken. Es war die gichtkrumme Schwiegermutter, welche ihre Augen und Ohren überall auf dem Hof zu haben schien.

In wenigen Worten erklärte die Jungbäuerin, welche Bewandtnis es mit diesen kleinen Nägeln hatte.

«So, so», raunte die Alte spöttisch. «Und du glaubst also, die Wichte wollten dir mit diesem Unfug einen Gefallen erweisen? Lass uns die Angelegenheit zuerst prüfen, so wie es sich gehört.»

Die alte Frau veranlasste ihre Schwiegertochter, alle sieben Nägel mit sich zu nehmen und mit ihr in das benachbarte Tenn hinüberzukommen. Dort stand eine Anzahl goldgelber Strohballen ordentlich aufgestapelt.

«Gib mir die Nägel», murmelte die Alte. «Wir sollen doch einmal sehen.»

Ächzend stiess die Altbäuerin einen Nagel um den anderen in das knisternde Stroh hinein. Kaum war das geschehen, lief plötzlich ein Ruck durch den Ballen. Erschrocken wichen die beiden Frauen einen Schritt zurück.

«Schau nur gut hin», wisperte die alte Frau und stützte sich schwer auf die Jüngere.

Der Strohballen begann wie von Zauberhand bewegt hin und her zu wippen. Immer toller gebärdete sich das scheinbar lebendig gewordene Stück, schliesslich schnellte es mit einem Satz vom Stapel und wischte an den beiden erstarrten Frauen vorbei über die Bodendielen auf das offene Tor zu. Ehe jemand um Hilfe rufen konnte, war der Strohballen bereits in das Freie hinausgestürzt und rollte nun auf geradezu komische Weise über die Wiese zu den nahen Flühen am Waldrand.

Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen beobachteten die Bäuerinnen, wie das entronnene Stroh geradewegs in die Zwergenhöhle hinein taumelte und dort in der Dunkelheit verschwand.

Es dauerte eine Weile, bis die Frauen von Unterbalm ihre Fassung wieder gefunden hatten.

«Da hast du deine Zwergenkunst», schmunzelte die Ältere schliesslich und strich ihrer Schwiegertochter begütigend über den Arm. «Diese kleinen Schlitzohren waren lediglich auf deine Butter aus. Das haben sie sich ja fein ausgedacht, ja?»

Nachdem sie ihren Schrecken überwunden hatte, musste nun auch die Jüngere lachen. Und weil sie den Zwergen ihren Streich nicht nachtrug, stellte sie künftig jeweils die doppelte Menge der begehrten Speise vor den Eingang der Zwergenhöhle, wenn sie gebuttert hatte.

Und sie hat diese Grosszügigkeit später nie bereut. Denn die Zwerge blieben den Hofleuten von Unterbalm stets besonders gewogen und eilten ihnen gutnachbarschaftlich zu Hilfe, wann immer dies erforderlich war.

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Auf der Spur der lokalen Sagenwelt
Andreas Sommer erzählt immer wieder heimische Sagen in der Region. Er führt zudem regelmässig Sagenwanderungen durch. Informationen auf: www.animahelvetia.ch

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Sieben verwunschene Nägel

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