Wer in den 1960er-Jahren ein Kind eines italienischen Saisonniers war, lebt heute vielleicht bereits als Grossvater oder Grossmutter in der Schweiz. Ihre Kinder und noch viel mehr ihre Enkel sind genauso Schweizerinnen und Schweizer wie Müllers oder Meiers – nur mit familiären Wurzeln im Ausland. Eine Vielzahl Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind in der Schweiz zuhause, haben aber eine familiäre Herkunft irgendwo in der Welt – der Anteil an binationalen Eheschliessungen beträgt in der Schweiz aktuell über 40 Prozent.
Integration durch Bestärkung der Herkunft
Oft spricht man in diesem Zusammenhang von der Wichtigkeit der Integration, gerade wenn Kinder beim Schuleintritt kaum deutsch sprechen. Was viele dabei nicht wissen: Solide Kenntnisse der Erstsprache, also der Muttersprache, vereinfachen das Annehmen der Zweitsprache – in unserem Fall Deutsch. Die meisten Kantone, auch Bern, unterstützen darum den Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). «Der Unterricht in der Erstsprache stützt mehrsprachig aufwachsende Kinder in ihrer Sprach- und Identitätsentwicklung», heisst es im Leitfaden HSK des Kantons Bern. Dies leiste nicht nur einen Beitrag zum Schulerfolg und damit der Integration, sondern fördere auch die interkulturellen Kompetenzen unserer Gesellschaft.
Unterricht in über 20 Sprachen
Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren empfiehlt den kantonalen und lokalen Verantwortlichen denn auch, den HSK-Unterricht zu unterstützen, etwa mit dem kostenlosen Zurverfügungstellen von schulischen Einrichtungen. Aktuell werden im Kanton Bern pro Woche mehr als 400 Kurse in knapp 50 Gemeinden durchgeführt. Über 20 Sprachen werden vermittelt: von Albanisch, Arabisch und Chinesisch über Eritreisch, Italienisch, Japanisch und Russisch zu Spanisch, Serbisch und Thailändisch.
Organisiert und finanziert wird der HSK-Unterricht von den Botschaften der Herkunftsländer oder von privaten Trägerschaften wie Elternvereinen. Frühestens ab dem zweiten Kindergartenjahr können Schülerinnen und Schüler – übrigens auch solche ohne Migrationshintergrund – wöchentlich bis zu vier solche Unterrichtsstunden besuchen. Meist finden die Kurse in Gemeinden mit Zentrumsfunktion statt. So ist Belp in der Region Gantrisch eine der einzigen Gemeinde mit HSK-Unterricht.
Die Zukunft ist hier
Annette Brunner Bükim ist Beauftragte für interkulturelle Bildung, Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) im Amt für Kindergarten und Volksschule. Sie erlebt viele unterschiedliche Gründe, warum Familien vom HSK-Angebot profitieren wollen: «Manche Familien sind erst vor wenigen Jahren eingereist und noch stark mit dem Herkunftsland verbunden. Andere hingegen sind bereits in zweiter oder dritter Generation hier, möchten aber die Sprache und die Verbindung mit der Herkunftsregion den Kindern bewusst mitgeben. Viele binationale Elternpaare wünschen sich, dass ihre Kinder als Erwachsene in der Lage sein sollen, sich im Herkunftsland ihres Elternteils zurechtzufinden. Sie sollen zudem den Reichtum von zwei Sprachen ausschöpfen können.»
War der Italienischunterricht in den 60er-Jahren noch vorgesehen, um den Familien die spätere Rückreise zu erleichtern, ist der Sinn des HSK-Unterrichts heute ein ganz anderer. Brunner Bükim betont: «Es geht heute um die Pflege der Herkunft und nicht mehr um Heimat und Rückkehr, denn die Zukunft der Kinder ist hier.»