Kopflos, orientierungslos, parteilos?

Kopflos, orientierungslos, parteilos?

Auf der einen Seite SVP, SP und Co. Kein Bundesratssitz ohne deren Einfluss. Auf der anderen Seite junge, politische aktive Menschen, die sich in Gruppen vernetzen und projektbezogen politisieren. Mitgliedschaft in einer Partei? Fehlanzeige.

Parteilose Mitglieder im National- und Ständerat sind so selten wie gescheckte Schneehasen im Naturpark. Aber wenn man gedanklich das Rad der Zeit etwas vorspult, könnte es auch so sein: Wir schreiben das Jahr 2050, im Gantrischgebiet stehen verschiedene Gemeinderatswahlen an. Das Resultat: Von insgesamt 28 Sitzen in vier Gemeinden sind 26 Personen parteilos. Zwei alteingesessene Politiker mit Parteihut verbleiben, aber auch nur, weil es schwierig wird, überhaupt noch Menschen für so ein Amt zu motivieren. Klingt das für Sie unvorstellbar? Mag sein. Aber allzu weit hergeholt ist es nicht, wie ein Blick in die aktuelle Situation in der Region zeigt.

Fallbeispiel Kaufdorf

Es gibt sie nämlich schon, die parteilosen Mitglieder im Gemeinderat. Besonders ausgeprägt in Forst-Längebühl oder in Kaufdorf. Beiderorts regiert eine geschlossen parteilose Exekutive. Wie ist es dazu gekommen? «Bei 1100 Einwohnerinnen und Einwohnern ist es gar nicht so einfach, genügend Menschen für Milizämter in der Gemeinde zu finden», räumt Markus Becker ein. Der Kaufdorfer Gemeinderat ist selbst parteilos und hat sich für das Amt zur Verfügung gestellt, nicht aber für eine Partei. Möglichkeiten gäbe es schon. Die SVP und die SP haben in der Gürbentaler Gemeinde eine Ortspartei, die Grünen Gantrisch eine überkommunale. Wenn aber – wie bei der SVP – sogar der Präsidentensitz vakant ist, mag das wie die Probe aufs Exempel wirken und den Worten von Markus Becker ein Beispiel liefern. Ganz ähnlich klingt der abtretende Gemeindepräsident Kurt Kindler in Forst-Längebühl: «In den 16 Jahren, in denen ich im Gemeinderat war, hatten wir nur ein einziges Mal Wahlen, alle anderen Male mussten wir froh sein, alle Sitze besetzen zu können.»

«Entpolitisierte» Gemeindestufe

Der Politexperte des gfs.bern und SRF-Wahlexperte Lukas Golder erkennt hier eine Tendenz: «Die Basisarbeit für echte Milizmandate ist schwer zu besetzen, gerade wegen der Polarisierung auf nationaler Ebene.» Für den National- und Ständerat aber, stellen sich immer wieder viele aktive Parteimitglieder bei Wahlen zur Verfügung. «Faktische Berufsmandate als Politikerin oder Politiker sind attraktiv», kommentiert der Experte. Gerade weil aber diese «Berufspolitiker» emotionale Themen bespielen, ist das Mittragen gewisser Voten in der beschaulichen Kommunalpolitik für viele Menschen schwierig: «Eine Mitgliedschaft wirkt dann schnell wie ein Bekenntnis zu Lautstärke und Profilierung», so Golder. Parteien finden ihre Rolle in den nationalen Aktualitäten mit Dauerpositionen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. «Das kann die Gemeindestufe ohne eigene kleine Medienlandschaft mit vielen ‹kleinen› Themen kaum bieten. Diese Sachthemen sollen gelöst und nicht ‹politisiert› werden. Die Gemeindestufe wird entpolitisiert», zieht er einen Schluss.

Belastung als Spielverderber

Verlieren die Parteien ihre vielgelobte Basis? Es gibt Zahlen, die einen solchen Schluss stützen könnten. Während eine Gemeinde wie Schwarzenburg über 5000 Stimmberechtigte zählt, haben die Ortsparteien höchstens ein paar Dutzend Mitglieder. Tendenz sinkend. Und damit es gesagt ist: Schwarzenburg dient hier nur als Beispiel, vielleicht sogar als nicht mal so gutes, es gäbe Gemeinden mit weitaus kleineren Ortsparteien. Die Antwort auf die verlorene Wählerbasis muss dennoch «Nein» lauten. Die Mitgliedschaft ist ein klares Bekenntnis zu einer Partei, die abgeschwächte Form davon sind die Sympathisanten. Und diese Liste ist deutlich grösser, deutlich stärker. Die Wählerbasis schliesst diese mit ein. Das weitaus grössere Problem für die Ortsparteien ist der Aufwand. Milizmandate in der Politik sind zeitraubend und arbeitsintensiv. Dagegen wirkt die Vorstandsarbeit in Vereinen wie ein Sonntagsspaziergang. Wer die kantonale Gesetzgebung, die kommunalen Her-ausforderungen und die nationalen Rahmenbedingungen verstehen will, der muss sich durch aberhunderte von Seiten lesen, nachfragen, verstehen und letztendlich interpretieren, damit überhaupt Lösungen entstehen. Wenn dann zum Dank am Stammtisch Gemeinderätinnen und Gemeinderäte so schnell verunglimpft werden, wie der Bierdeckel Wasserflecken bekommt, ist das wenig erbaulich. Wenn dann an einer Gemeindeversammlung die Nörgler die Komplexität eines Geschäfts so stark vereinfachen, dass der Gemeinderat dumm dasteht, obschon er gar nicht so unrecht hätte, wirkt das frustrierend. Jüngst haben zwei Gemeindepräsidenten demissioniert: Andreas Meyer in Kaufdorf und Jürg Lüthi in Thurnen. Politische Ämter sind von der Basis bis in die Spitze belastend und herausfordernd. Der Unterschied zwischen Bundesbern und Kaufdorf liegt aber in der Wertschätzung, der Entlöhnung und der Wahrnehmung. Wer in Guggisberg oder Oberbalm politisiert, hat von alldem nichts, von der Frustladung der Bürgerinnen und Bürger aber dieselbe Menge.

Katalisator Jugend

Die Belastung und die undankbare Aufgabe einer entpolitisierten Gemeindearbeit, sie sorgen für eine schwindende Zahl an Menschen, die sich im Gemeinderat engagieren. Mit vereinten Kräften könnte man dem vielleicht noch lange entgegenhalten, wie etwa in Laupen, wo alle Parteien gemeinsam Mitglieder suchen und dazu einen «Märitstand» nutzen. Doch es gibt einen Beschleuniger der Tendenz; einen, der das Eingangsszenario wahrscheinlicher werden lässt: die Jugend. Während frühere Generationen mit Demonstrationen auf gewisse Probleme aufmerksam gemacht haben, zeigt die Klimajugend eine ganz neue Facette. Die heutigen jungen Menschen sind vernetzt, bestens organisiert, strukturiert, bestens informiert und können sogar eine weltweite Bewegung erzeugen. Parteien interessieren dabei herzlich wenig. «Bei uns sind Parteien selten ein Thema, wir organisieren uns projektbezogen und engagieren uns für eine Sache, ganz ohne politische Farbe und wertfrei.» Diese Worte stammen von einer Klimaaktivistin aus dem Gantrischgebiet. Die Jugend wünscht sich mehr Sach- und weniger Parteipolitik. «Der Prozess der Entpolitisierung dauert schon länger an, wird aber durch die Bedürfnisse der Jugend beschleunigt», glaubt auch Lukas Golder. 

Für die Parteien brechen schwierige Zeiten an, möchte man meinen. Aber diese Aussage wäre zu kurz gegriffen. «Das politische Engagement verliert an Attraktivität und das Bekenntnis zu einer Partei wird zum Stigma. Das ist die Kehrseite des polarisierten Dauerwahlkampfes auf nationaler Ebene», zieht der Experte Bilanz. Das Szenario aus dem Jahr 2050 muss also nicht eintreten, wenn die Parteien die Zeichen der Zeit erkennen: Wer noch lange provoziert und polarisiert, der verliert. Er verliert die Basis. Sachpolitik wird wieder wichtiger als laute Töne und plakative Sprüche. An parteilose Gemeinderäte wird man sich gewöhnen müssen. Die Parteien bestimmen mit ihrer Politik, wie viele davon es zukünftig geben wird. Sonst heisst es in naher Zukunft irgendwann: Kopfloses Weitermachen erzeugt orientierungslose Gemeinden, die letztendlich von ein paar parteilosen Gutmenschen irgendwie am Laufen gehalten werden.

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Kopflos, orientierungslos, parteilos?

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