Es ist dieser Donnerstag im November, an dem die Schweiz Kopf steht. 30 cm Neuschnee sorgen auf vielen Strassen und auf weiten Teilen des Schienennetzes für Chaos. Drinnen am Küchentisch von Christian Liniger ist all das jedoch ganz weit weg. Der Mann mit dem dichten, weissen Haar und den freundlichen Augen nimmt einen grossen Schluck Kaffee und nimmt mit dem nächsten Satz der Autorin gleich sämtliche Zweifel ab, die noch während der Autofahrt nach Bäriswil in ihr aufkamen – was fragt man und vor allem wie fragt man einen Menschen, der ein solches Trauma erlebt hat? «Du darfst mich alles fragen», so Liniger, als ob er Gedanken lesen könnte. «Ich bin dankbar, dass mein Buch auf so grosses Interesse stösst, und ich so hoffentlich meinen Teil dazu beitragen kann, dass wir Verdingkinder niemals vergessen werden.»
Einer zu viel
1945 wurde Christian Liniger als sechstes von sieben Kindern in Belp geboren. Kaum auf der Welt war er «zu viel» – zuhause gab es für ihn keinen Platz und so nahm ihn die Mutter nicht mal aus dem Spital mit nachhause. Sein erstes Lebensjahr verbrachte er im Zimmer einer Diakonissenschwester. «Als ich meine ersten Schritte machte, gab es auch dort keinen Platz mehr für mich.» So wurde Christian Liniger zum ersten Mal verdingt. Der Junge wurde insgesamt viermal verdingt, bis er im Alter von sieben Jahren zum letzten Mal auf einen Bauernhof auf den Belpberg versetzt wurde. Auch dort war er stets einer zu viel, und dies liess ihn seine Pflegemutter spüren. Auch die leibliche Mutter zeigte ihm stets deutlich, dass er nicht gewollt war – bei der ersten Begegnung mit ihr streckte sie dem Erstklässler lediglich die Hand entgegen.
«Aus dir wird nie etwas werden!»
Diesen Satz hat Christian Liniger in seiner Kindheit unzählige Male zu hören bekommen. «Mittlerweile denke ich zu wissen, weshalb meine Pflegemutter mich damals so behandelt hat, wie sie es tat», so Liniger nachdenklich. «Was keine Entschuldigung ist, aber es half mir beim Verarbeiten. Sie hat mich halt wirklich nicht gewollt, und ich wurde ihr quasi von der Gemeinde aufgezwungen.» Aus Linigers Kindheit gibt es nur ein Foto – es ist jenes, welches das Cover seines 2023 erschienenen Buches «Ein schmaler Weg» ziert. Dieses Foto machte damals der Schulfotograf und es existiert nur deshalb, weil es der darauf abgebildete, verschmitzt grinsende Junge in seinem Nachtkästchen unter einem Haufen alter Lumpen versteckte. Wenn es Fotos von Christian Liniger gab, vernichtete die Pflegemutter diese – ganz so, als wolle sie den Jungen aus ihrem Leben ausradieren. Dass ihr dies allerdings nicht gelingen würde, zeigte sich bald, denn womit niemand gerechnet hatte war, dass dieser Junge eine schier übernatürliche Resilienz besass, und einen nicht zu brechenden Willen.
Der Ausweg…
… eröffnete sich Christian Liniger mit 16 Jahren, als er eine Stelle als Traktorführer bei einem Bauern im Welschland antrat. Dort sollte er auch zum ersten Mal in seinem Leben körperliche Zuneigung erfahren. Die Tochter seines Chefs lud ihn damals zu einem Silvesterball ein – das Orchester spiele Cha-Cha-Cha und sie wolle auf dem Ball mit ihm tanzen. Auf Linigers Einwand, er könne nicht tanzen, meinte sie ermutigend: «Ich bringe es dir bei.» Am Ende des Abends verabschiedete sie ihn mit zwei Küsschen auf die Wange und einer Umarmung. Zum ersten Mal erfuhr Christian Liniger menschliche Wärme, zum ersten Mal konnte er an jenem Abend vor lauter Glücksgefühlen nicht einschlafen und nicht, weil ihn Schmerzen, Wut, Trauer oder im Winter die Kälte in seinem unbeheizten Kinderzimmer plagten. «Ich habe mich wie eine andere Person gefühlt und habe in diesem Moment begriffen, dass mich der Stempel Verdingbub nicht definiert, sondern, dass ich ein ganz normales Leben, als normaler Mensch, führen kann.»
Der Glaube an das Gute im Menschen
Die Erinnerungen an seine Kindheit als Verdingbub hat Christian Liniger in seinem Buch «Ein schmaler Weg» niedergeschrieben. Ein bewegendes, ehrliches Buch, welches die ungeschönte, damalige Realität wiedergibt. Doch gibt es auch immer wieder Lichtblicke, wie beispielsweise damals, als Liniger seine Ausbildung zum Polizisten begann.
Anmerkung der Autorin: Der Kaffee ist ausgetrunken und draussen wird es schnell dunkel. Der Schnee fällt in grossen Flocken vom Himmel und mit einem Blick aus dem Fenster meint Christian Liniger: «Ojeh, hoffentlich schaffst du es gut nachhause.» Nachhause habe ich es geschafft, jedoch ohne mein Auto, welches sicherheitshalber über Nacht in Bäriswil blieb. Mich hat diese ehrliche, herzliche Gastfreundschaft tief berührt, mit der mich Christian Liniger und seine Partnerin Iris empfangen haben. Dieser Mann hätte jedes Recht dazu gehabt, verbittert und misstrauisch gegenüber Menschen zu werden, doch er hat sich bewusst für einen anderen Weg entschieden. Er hat sich dafür entschieden, weiter an das Gute im Menschen zu glauben, und diesem Weg zu folgen. Eine Begegnung, die mich tief berührt hat und mich noch lange begleiten wird.