Im Takt des Lebens

Im Takt des Lebens

An Parties, im Studio, an Hochzeiten, beim Kochen oder auf der grossen Bühne. Wir Menschen tanzen ständig. Es gibt unzählige Tanzstile – und ebenso viele Gründe, die uns zum Tanzen bewegen. Sei es, um sich mit anderen zu verbinden, sich fit zu halten, sich ohne Worte auszudrücken, zu kommunizieren oder um sich aufzulehnen. Ein Einblick in das, was Tanzen in uns bewegt – körperlich, geistig und gesellschaftlich.

Als Sabrina Thüring von ihrer Freundin das erste Mal in eine Schnupperstunde Poledance mitgenommen wurde, war sie skeptisch. Ist dieser Tanz, der aus praktischen und technischen Gründen mit knapper Bekleidung praktiziert wird, etwas für sie? Bald schon wurde ihr klar: In diesem Sport sind alle willkommen – ob klein, gross, jung, alt, schlank oder füllig. «Ich hatte zu Beginn Selbstzweifel wegen meiner Cellulite und meinen Schwangerschaftsstreifen. Aber schon bald merkte ich: Da trainieren unteschiedlichste Frauen, einfach so wie sie sind», erklärt die Uetendorferin. Trotz anfänglicher Skepsis, zog das Poledance sie schon bald in ihren Bann. So fest, dass sie nach nur vier Jahren, im Jahr 2022, ihren Job als Bestatterin an den Nagel hängte und ein eigenes Poledance-Studio in Belp eröffnete. 

Mehr Akzeptanz

Der Poledance hat seinen Ursprung im erotischen Bereich – und behält seinen freizügigen Ruf bis heute. «Wir werden immer wieder darauf angesprochen, ob wir damit Geld verdienen. Das ist schade.» Es sei nicht das eine schlecht oder das andere besser, Poledance habe einfach viele Unterkategorien. Seit diesem Jahr ist die Swiss Pole & Aerial Sports Federation (SPSF) Teil von Swiss Olympic. Das dürfte nun zu einer breiteren Akzeptanz und Entstigmatisierung des Sports beitragen. Poledance sei anstrengend, aber dennoch für alle, beteuert die zweifache Mutter. Denn man komme schnell voran, baue schnell Muskeln auf. «Der Sport ist auch für die geeignet, die vorher noch nie Sport getrieben haben. Das ist für mich das Faszinierende.» In ihren Tanzstunden will Thüring deshalb einen geschützten Raum für alle bieten, egal ob Frau oder Mann. «Denn obwohl der Sport eher feminin konnotiert ist, besuchen durchaus auch Männer unsere Stunden.»

Mut machen 

Thüring und ihr Team sehen es als ihre Aufgabe, den Kursteilnehmenden Mut zu machen. Das sei gerade dann wichtig, wenn sich jemand schäme – aufgrund der Körperform, der noch nicht vorhandenen Kraft oder wegen zu vielen Hemmungen vor den anderen. Insbesondere auch, weil das Poledance aus Sicherheitsgründen mit knapper Bekleidung praktiziert wird. «Im Poledance lernst du, mit dir und deinen Unsicherheiten umzugehen und dich selbst zu akzeptieren. Das stärkt das eigene Selbstvertrauen und -bewusstsein extrem.» Die 39-Jährige will ein Zeichen setzen: «Wir sind alle Menschen und haben alle Unsicherheiten.» Besonders Freude mache es ihr, die Entwicklungen der einzelnen Teilnehmenden zu beobachten. «Es war eine sehr scheue und introvertierte Frau im Kurs. Als sie bei mir begann, traute sie sich nicht mal in die Badi, weil sie sich unwohl in ihrem Körper fühlte. Bald wird sie an Poledance-Wettkämpfen teilnehmen– und stapft mittlerweile selbstbewusst in die Badi», sagt Thüring stolz. Eine andere Frau sei 66 «und tanzt uns alle um», sagt sie lachend.

Massage für Gehirn und Körper

Tanzen hat viele Vorteile für die Gesundheit, aber auch für das Wohlbefinden. Die Wissenschaft hat längst gezeigt: Die Effekte sind je nach Trainingsintensität vergleichbar mit denen anderer Sportarten. Muskeln werden gestärkt, die Ausdauer, Koordination und Haltung verbessert, die Beweglichkeit und Durchblutung gefördert, der Bluthochdruck gesenkt und sogar der Schlaf verbessert. Man baut Stress ab und schüttet Endorphine aus, womit die Stimmung gehoben wird. Bei Tänzen, bei denen man sich Choreographien merken muss, wird ausserdem die kognitive Ebene und gleichzeitig die Konzentration, Reaktionsfähigkeit und Kreativität gefördert. Auf verschiedene Tänze und ihre Hintergründe und Effekte geht auch die aktuelle Ausstellung des Kommunikationsmuseums Bern ein. Wer tanze, denke kreativer und vermindere das Risiko, an Demenz zu erkranken. Besuchen Menschen mit Parkinson einen Tanzkurs, verbessern sich ihre körperlichen Beschwerden und ihr psychisches Wohlbefinden. Tanzen sei eine Massage für Gehirn und Körper, liest man dort. «Tanzen ist eine Kunstform, ein Workout, ein Ritual, eine Therapie oder Unterhaltung. Es ist eine Form der Kommunikation und ein Mittel des Protests. Es gehört zum Menschsein.»

Mehr als «der Tanz»

Intensiv mit Tanz befasst sich auch Sari Pamer. Sie ist Doktorandin am Institut für Theaterwissenschaft an der Uni Bern. Dort untersucht sie als Doktorandin die «#MeToo-Bewegung» und Missstände in der Ballettausbildung. Im Gespräch betont sie immer wieder, dass es nicht «den Tanz» gebe, sondern einzelne Tanzrichtungen. «Diese sind immer eine Möglichkeit von mehreren, die eine Tanzgeschichte unter vielen mit sich bringen.» Da jeder Tanz andere Körper hervorbringt, könne man das Ganze nicht als gesamtes Phänomen betrachten. So liege auch der Forschungsschwerpunkt in Bern auf Zentraleuropa, etwa wenn es um die Institutionalisierung des Tanzes geht. «Ab wann Menschen tanzten, können wir in der Wissenschaft erst dann sagen, wenn eine Tanzform dokumentiert worden ist. Und diese Dokumentation zu finden, ist nicht immer einfach.» Beim Bühnentanz wisse man, dass er seinen Beginn gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte. Als sich das Hofballett als Gesamtkunstwerk abspaltete, wurde es eine autonome Kunstform. Mit der Académie Royale von Louis XIV wurde schliesslich eine Basis für die professionelle Ausbildung geschaffen. «Eine Tanzgeschichte unter vielen», betont die Tanzwissenschaftlerin und Kulturjournalistin erneut.

Als Mittel zum Protest

Man kann Tanz nicht verallgemeinern. Zu wenig würde man so den Tänzen unterschiedlichster Länder, Kulturen und Erdteile gerecht werden. Neben den körperlichen, kognitiven und sozialen Aspekten, die dabei alle gefördert werden, lässt sich aber eines ausmachen: Tanzen ist immer auch politisch, ob aufgrund seiner Geschichte oder als Mittel zur Abgrenzung und Auflehnung oder als Protest. So etwa, als im November drei Māori-Abgeordnete im neuseeländischen Parlament tanzend gegen ein umstrittenes Gesetz protestierten. Oder als vor zwei Jahren eine Gruppe junger Iranerinnen in Teheran mit offenen Haaren und mit westlicher Kleidung tanzend auf Social Media um die Welt ging und sich so gegen das Regime auflehnte. Im Bewusstsein, es würden verheerende Konsequenzen auf sie warten. Seitdem fanden sie viele Nachahmner-
innen – trotz der Festnahmen, die dadurch drohen. Tanz verleiht eine Stimme, kritisiert Machtverhältnisse, gibt Minderheiten eine soziale Identität und wehrt sich gegen festgefahrene gesellschaftliche Konzepte. Der künstlerische Bühnentanz bildet da keine Ausnahme. «Auf der Bühne wird immer auch Gesellschaftskritik geübt», erklärt Pamer. «Ein weiteres Beispiel ist Voguing, ein urbaner Tanzstil aus den USA, der als ‹Safespace› für queere BIPoC (Schwarze, Indigene, People of Color) galt. Der Tanzstil ist ein Auflehnung gegen gängige gesellschaftliche Normvorstellungen, Körperkonzepte und Strukturen.»

Mit und ohne Mensch

Doch ab wann ist etwas überhaupt ein Tanz? «Diese Frage stellen wir uns in der Wissenschaft oft», sagt Pamer lachend. Eine gängige Definition, über die man sich einig ist, laute: Sich bewegende Körper in Raum und Zeit. Musik sei dabei kein Muss. Und auch Menschen nicht unbedingt. «Bei neuen Forschungsaspekten in den Tanzwissenschaft untersucht man auch Choreographien ohne Menschen, also etwa Bakterien, die choreographische Prozesse durchlaufen, oder Stadtchoreographien. Dort schaut man: Wie bewegen sich Menschen in einer bestimmten Architektur? Oder man untersucht Demonstrationen, in denen sich Menschenmassen fortbewegen», weiss Sari Pamer. Die Grenze, wo Tanz beginnt und aufhört, scheint verschwommen.

Moment statt Meisterschaft

Fast ihr ganzes Leben lang begleitet Linda Barker das Tanzen. Früher konzentriert auf Wettkämpfe und Meisterschaften in Gruppen, führt sie heute die Yinyang Tanzschule in Toffen. Dort bietet sie eine Mischung aus Hip Hop, Contemporary und House an.«Tanzen hält mich fit, gesund und flexibel. Ich tue es, weil ich dabei frei bin und mich ohne Worte ausdrücken kann.» Das Wettkampfdenken wich schliesslich der Wertschätzung des Moments. «Beim Tanzen geht es eigentlich als allererstes darum, sich selbst zu spüren.» Damit wachse das Selbstbewusstsein. Bei ihr selbst und bei ihren Tanzschülerinnen und -schülern, die vorwiegend Kinder und Jugendliche sind. «Je mehr Zuspruch man ihnen gibt, desto eher kommen sie aus sich raus und verstehen, dass es dabei alleine um sie selbst und um ihr Gefühl im Moment geht.» Barker spricht von introvertierten Kindern, die durch das Tanzen neue Freunde finden und stellt einen grossen Zusammenhalt untereinander fest. 

Miteinander

Neue Leute treffen, sich verbunden fühlen und gemeinsam in Bewegung sein – auch das sind Auswirkungen des Tanzens. Auch Sabrina Thüring beobachtet das in ihrer Poledance-Schule regelmässig: «Ganz natürlich entsteht dabei eine Community, die verbindet.» Manchmal so sehr, dass enge Freundschaften oder sogar Liebesbeziehungen entstehen. «Zwei Personen aus dem Kurs sind kürzlich gemeinsam in die Ferien gefahren. Und die Schülerin, die heute selbstbewusst in die Badi schreitet und schon bald an Wettkämpfen teilnimmt, traf bei unserem Tag der offenen Tür ihre zukünftige Liebe: den Bruder einer Tanzlehrerin», so Thüring lachend.

Ob allein oder gemeinsam, im Studio, im Freien oder auf einer Bühne, ob professionell oder als Hobby: Tanzen gibt Halt, macht Mut – und verbindet uns mit anderen und mit uns selbst.

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