«Ich spüre Verbundenheit»

«Ich spüre Verbundenheit»

Eine Mutter gibt ihr drei Wochen junges Baby einem fremden Mann in die Arme. Er und seine Frau sind fortan dessen Eltern. 35 Jahre später macht sich die adoptierte Frau erstmals auf die Suche nach ihrer Herkunft. Eine Geschichte über Behördenversagen, aber auch über Verbundenheit über Kontinente und Jahrzehnte hinweg.

Staudenmanns oder Zbindens kommen aus Guggisberg oder Rüschegg, Raemys aus Plaffeien und Fasels aus Heitenried. Die Verbundenheit mit der eigenen Familiengeschichte, mit dem Familiennamen, ist bei manchen stärker als bei anderen. Aber den meisten Menschen ist gemein, dass sie um einen Heimatort wissen, vielleicht noch Grosseltern oder Cousinen an dem Ort haben, wo sie oder ihre Eltern aufgewachsen sind. Und es gibt Dörfer, in denen Familien seit vielen Generationen wohnen. Was zeichnet Verbundenheit aus? Ein Name, Verwandte, die Gene? Oder ist all das zweitrangig und die Verbundenheit im Jetzt ist wichtiger?

Solche Fragen treiben auch Menschen wie Doro Jordi um. Die 40-Jährige wuchs nach Stationen in Wetzikon und Deutschland in Grosshöchstetten auf und wohnt heute mit ihrer Familie in Belp. Wie ihre «Gspändli» besuchte auch sie ihre Grosseltern, Tanten und Onkel, hat Cousinen und Cousins. Doch biologisch ist sie nicht mit ihnen verwandt. Doro Jordi ist adoptiert.

Vom Kind zur Mutter

«Ad-» und «optare»: «zu» und «wählen, wünschen» – der Begriff Adoption hat seinen Ursprung im lateinischen Wort «adoptare». In der Schweiz gilt es, mehrere Voraussetzungen zu erfüllen, um ein Kind adoptieren zu können. Eine davon gibt vor, dass die leiblichen Eltern ihre Zustimmung frühestens sechs Wochen nach der Geburt des Kindes geben können. 1985 galt dies auch schon – doch die biologische Mutter der heutigen Belperin gab sie bereits im Alter von drei Wochen aus ihren Armen, in einer Institution in Colombo, Sri Lanka. Jordi ist eines von knapp tausend Kindern, die in den Jahren zwischen 1973 bis 1997 aus Sri Lanka adoptiert wurden. «Meine Mutter sei Studentin gewesen und habe deshalb nicht zu mir schauen können», so, berichtet Jordi, sei es ihr erzählt worden bzw. dies habe ihr Vater als Begründung gehört, als er vor 40 Jahren nach Colombo flog, um zwei Jahre nach der ersten Tochter die zweite zur Familie zu holen. Die Eltern sprachen mit ihren Töchtern von Beginn an offen über ihre Adoption, zeigten ihnen auch Fotos von ihnen als Baby und Dokumente mit Hinweisen zu ihren singhalesischen Namen oder den Namen ihrer leiblichen Müttern. «Es war mir schon immer klar, dass ich adoptiert bin – schon nur wegen der Hautfarbe merkte man es», erinnert Jordi sich. Doch das Thema interessierte sie kaum. Die Eltern ermutigten ihre Töchter sogar, nach ihren leiblichen Verwandten zu suchen. Als sie Anfang 20 war und erstmals mit Freunden Sri Lanka besuchte,  «fühlte ich mich wie als Touristin in einem fremden Land, ausser dass dort alle aussahen wie ich». Erst, als sie selbst Kinder bekam, machte sie sich Gedanken. «Ich merkte, es ist eine ganz andere Bindung zu meinen Kindern, als ich sie zu meinen Eltern erlebt hatte.» Es war schliesslich ein Dokumentarfilm von SRF, der das Thema richtig aufwirbelte. Ende September 2019 zeigte dieser den illegalen Handel mit Tausenden von Adoptivkindern auf – die Rede war von gestohlenen Babies und gefälschten Dokumenten. «Ich fragte mich: Wollte meine Mutter mich wirklich weggeben?» Jordi stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, müsste sie ihre Kinder abgeben. «Was, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre?» So reichte sie die von den Eltern sorgfältig aufbewahrten Dokumente beim Berner Jugendamt ein; dieses stellte Nachforschungen an – vier Jahre lang. Doch obwohl der in den Unterlagen angegebene Name und die Adresse des leiblichen Grossvaters sich später als echt herausstellten, gaben die sri-lankischen Behörden an, nichts herausgefunden zu haben. Für Doro Jordi hatte sich die Angelegenheit damit erledigt. Doch einige Monate danach, im März 2024, war eine Freundin von Jordis Schwester wieder einmal in Sri Lanka. «Sie schrieb ihr, sie solle ihr doch mal ihre Unterlagen schicken, sie könne ja mal schauen.» Prompt fand sie deren leibliche Mutter und Halbschwester. «Dann fragte sie, ob sie für mich auch suchen solle. Und noch bevor ich ihr zugesagt hatte, kam am nächsten Tag der Anruf.» Die Nachricht hatte es in sich: Die Mutter sei gestorben, aber der Kontakt zu den Tanten und Onkeln sei hergestellt. Wenige Monate später bestätigte ein DNA-Test, der dank der Unterstützung des Schweizer Vereins Back to the Roots zustande kam, die Verwandtschaft. Die beiden Schwestern beschlossen, in den Sommerferien gemeinsam mit ihren Familien nach Sri Lanka zu fliegen.

Freude trotz Sprachbarrieren

Vier Wochen verbrachte Doro Jordi diesen Juli in ihrem Herkunftsland. Wegen der sprachlichen Hürden, die schon bei Videoanrufen in den Wochen davor eine Herausforderung darstellten, sei es für sie ungewiss gewesen, was sie erwartet. «Ich war eher distanziert», schaut sie zurück. Doch, auch dank der Hilfe eines Übersetzers, sei das erste Treffen gut verlaufen. Ihre Tanten und Cousinen hätten sie zum Essen eingeladen und dabei auch den Brauch vollzogen, der aus Europa aufgetauchten Nichte und ihrem Mann den ersten Bissen von Hand in den Mund zu geben. Die jüngere Schwester der Mutter, Rohini, eröffnete Jordi, dass nun sie ihre Mutter sei. Dies sei die Sitte dort. «Es war eine entspannte Zeit, sie hatten richtig Freude, mich kennenzulernen.» Die Verwandten gaben auch Auskunft über Ranjani, der Mutter von Doro Jordi, bzw. von Anomika, wie sie in den Adoptionsdokumenten heisst. «Sie sagten mir, dass meine Mutter mich weggegeben habe, weil sie keine Schande über die Familie bringen wollte», sagt Jordi. Doch es sei gut möglich, dass sie noch mehr wussten und es nicht sagen wollten, vielleicht auch, weil viele Leute im Raum waren. Klar war aber: Die Mutter war 27 Jahre alt, nicht verheiratet und sie arbeitete auf einer Teeplantage. Sie starb 2008 im Alter von 50 Jahren, als Diabetikerin mit Leber- und Herzproblemen. Die ganze Verwandtschaft lebt in armen Verhältnissen, «von einem Tag zum anderen», daher konnte sich Ranjani wohl kaum gute medizinische Versorgung leisten. Und der Vater? «Zu ihm konnten oder wollten sie nichts sagen.»

In engem Kontakt

War der südasiatische Inselstaat vor 20 Jahren einfach ein fremdes Land, fühlt es sich jetzt anders an für Doro Jordi. «Ich weiss nun, ich gehöre dorthin. Ich spüre so etwas wie ein Band, eine Verbundenheit, zu meinen biologischen Verwandten. Auch wenn ich sie noch gar nicht gut kenne, ist es anders, ähnlich wie zu meinen Kindern.» Dass sie ihre Mutter nicht mehr kennenlernen konnte, hatte sie geahnt: Bereits 2019, als sie sich nach der SRF-Doku zum ersten Mal intensiv mit ihrer Herkunft auseinandersetzte, habe sie tief in sich das Gefühl verspürt, dass ihre Mutter verstorben sei. Als sich dies bestätigte, fühlte sie einerseits eine grosse Trauer. Aber gleichzeitig auch eine Art Erleichterung. Denn wie sollte sie ihrer Mutter begegnen – im Wissen, sie nach ein paar Wochen wieder zurückzulassen? Die Verbundenheit mit den Tanten und Cousinen bleibt auch nach der Rückkehr in die Schweiz lebendig, trotz Sprachbarrieren. Die Verwandten hätten trotz ihrer Armut nie nach Unterstützung gefragt. Dennoch sei es für sie und ihren Mann selbstverständlich, die monatlichen Kosten für die Medikamente des Onkels und der Cousinen zu übernehmen. Regelmässig schicken sie sich Nachrichten über Whatsapp, am Anfang sei sie fast schon überschwemmt worden mit Guten-Morgen- oder Gute-Nacht-Grüssen. Bis die Cousine erklärte, das sei ihre Verpflichtung – schliesslich sei Doro ohne ihre Verwandten so alleine in der Schweiz. «Ich merkte, man schaut enorm gut zueinander.» Mit drei Kindern im Schulalter ist eine Reise nach Asien nicht einfach zu planen. Vielleicht steigt sie das nächste Mal nur mit ihrer Schwester ins Flugzeug. Klar ist aber, dass sie wieder nach Sri Lanka reisen wird.

Ihre Adoptiveltern haben sich über die gefundenen Verwandten gefreut. Ihnen gegenüber verspürt Doro Jordi keinen Groll, sie macht ihnen keine Vorwürfe. «Klar macht mich das, was alles passiert ist, auch wütend. Dass die Behörden nicht hinschauten, finde ich sehr schlimm. Doch ich hatte eine schöne Kindheit und ich weiss, ich habe es hier gut. Und ich möchte meine jetzige Familie nicht missen.» Nachdenklich fügt sie an: «Dennoch ist es nicht leicht, adoptiert zu sein, man trägt einen schweren Rucksack mit sich. Die Entwurzelung und das Trauma prägen einen ein Leben lang. Sie bringen Verlustängste, Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen, das Gefühl, nicht richtig zu sein, und vieles mehr mit sich. Ich finde es sehr wichtig, dass jeder Mensch das Recht hat zu wissen, woher er kommt und welche Wurzeln er hat.»

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