Sie nahmen beim Bahnhof Winterthur Obdachlose bei sich auf, bis ihr Daheim einem Neubau weichen musste. Auf der Suche nach einem weiteren Haus, das genug Platz für hilfesuchende Gäste bietet, verschlug es sie in die Hügel zwischen Riggisberg und dem Gurnigel. «Unser Motto lautet ‹Willkomen zuhause›», sagt Stephan Maag gleich zu Beginn des Gesprächs am langen Esstisch. Im Ess- und Aufenthaltszimmer der Pension Sonnhalde ist es an diesem regnerischen Mai-Tag kühl, denn die Heizung ist längst ausgeschaltet, doch die Gastgeber Stephan und Nadine Maag verströmen eine Wärme, die von innen kommt.
Eigenverantwortung statt Leistung
Seit 1945 dient das dreistöckige Bauernhaus als Pension, viele Jahre unter dem Namen «Christliches Erholungsheim». Heute ist es das Daheim der sechsköpfigen Gastgeberfamilie – und von immer wieder wechselnden Mieterinnen oder Gästen. Manche bleiben ein paar Jahre, andere nur wenige Tage. Einige kommen aus dem Getümmel der Stadt für einen Entzug, wieder andere brauchen dringend eine Auszeit aus dem «Hamsterrad». Ihnen allen ist gemein, dass sie Teil der Familie werden, sobald sie die Türschwelle überschreiten, wie Maags betonen. Gefragt ist einzig der Respekt voreinander, gegenüber dem Haus und der Natur darum herum.
Als früherer «In Take»-Leiter einer Suchttherapie habe er gemerkt, dass die Menschen ihren Weg gehen müssen – man könne ihnen helfen, aber die wichtigen Schritte nicht abnehmen. Deshalb erwartet er von den Untergeschlüpften auch nichts: Sie können selbst entscheiden, ob sie an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen, ob sie beim Abwasch oder im Garten mithelfen, ja sogar, ob sie aufstehen. Das sei für viele ungewohnt, die aus Institutionen klarere Regeln gewohnt sind. Und doch – immer wieder merke man, dass sie dank der verstärkten Eigenverantwortung plötzlich lernen, vorwärtszugehen. «Hier ist man ausserhalb des so vertrauten Systems, in dem vor allem Leistung zählt», sagt Nadine Maag. Einfach nur «sein» zu dürfen, helfe nicht immer. Aber sie nähmen alle Menschen an, ohne Ansehen der Person.
Nicht parkieren, sondern begegnen
Schlafen, leben, weiterkommen – das sei oft dasjenige, was ihre Gäste hier brauchen und finden. Aus der Angst in die Hoffnung. So hätten bereits mehrfach Gäste in diesem alten Haus in der Plötschweid den Schritt aus der Sucht geschafft, hätten aus einer Depression oder einem Burnout wieder Perspektive gefunden. «Viele brauchen zuerst mal ein Bett und dann ein normales Leben», erläutert sie. «Wenn sie hier am Tisch sitzen, sind sie jemand, und zwar nicht Patient Nummer 37.» Maags erwecken nicht den Eindruck, als würden sie Institutionen oder andere Ansätze kritisieren. Doch erzählen ihnen die Gäste immer wieder, dass sie sich andernorts parkiert gefühlt hätten. «Jeder Mensch ist es wert, dass man ihm begegnet», ruft Maag aus. Ihr Verein notbett.ch ermöglicht ihnen, dank Spendengeldern auch Menschen aufzunehmen, die weder Miete zahlen noch eine Kostengutsprache vorweisen können. Andere wiederum seien voll zahlende, sogenannt «normale Gäste» ohne offensichtliche Probleme, die einfach ein paar Tage an einem schönen Ort verbringen möchten. Und manchmal finden ganz unerwartet andere «besondere Gäste» den Weg in die Plötschweid: Durch die Vermittlung von russischen Übersetzern, die beim Projekt Olga mithelfen, erholte sich letzten August und zwischen zwei Auftritten die Band Pussy Riot bei Maags – inkl. Spaziergang mit den Eseln.
Bio-Hof und Projekt Olga
Die Vielfalt der Menschen im Haus wird ergänzt durch Freiraum: Therapie und fixe Arbeitsprogramme sucht man hier vergebens. Denn manche Ankommende brauchen zuerst einmal Ruhe und Zeit für sich, während es anderen guttut, im Haus und Hof gebraucht zu werden. Stephan Maag arbeitet als Pastor und Dozent für Theologie. Er machte aber auch die Ausbildung zum Bio-Landwirt und züchtet in der Plötschweid verschiedene Schafe. «Die Tiere lehren mich viel über das Wesen von Gott, ich mag sie sehr», so der Winterthurer, der im Gurnigelgebiet Hirte im wörtlichen und übertragenen Sinn ist. Auch Wollschweine, die erwähnten Esel und ein nach den Werten der Permakultur gepflegter Gemüse- und Kräutergarten gehören zum Bio-Hof. Nadine Maag, die übrigens nicht weit entfernt im Aaretal aufwuchs, leitet eine Spielgruppe und den «Gipfeli-Träff», einen Ort der Begegnung für Mütter mit kleinen Kindern in Riggisberg. Zudem engagiert sie sich im von Maags ins Leben gerufenen Projekt Olga. Zu Beginn des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine hatten sie nämlich mitgeholfen, knapp hundert Geflüchtete in der Region – etwa im Schulhaus Vorderfultigen – unterzubringen. Die Namensgeberin Olga und eine zweite Ukrainerin wohnen noch heute in der Sonnhalde, sind Teil der Familie. «Diese kurzfristige Hilfsaktion war ziemlich unüberlegt und wir waren teilweise 18 bis 20 Stunden pro Tag im Einsatz», schauen Maags zurück. Wohlgemerkt – sie sind auch Eltern von vier Kindern im Alter von sieben bis elf Jahren.
Ja, manchmal endeten Projekte anders als gedacht, wie sie zugeben. Aber lieber probieren sie etwas aus, als sich im Vertrauten und Gewohnten auszuruhen. Zu gross ist die Not vieler Menschen, als dass sie möglichst vielen von ihnen nicht etwas anbieten würden, das sie zu geben haben: ein Zuhause und Perspektive – aus der Angst in die Hoffnung.
Sonnhalde Gantrisch
Der Bio-Hof und die Pension Sonnhalde liegen oberhalb von Plötsch in Rüti b. Riggisberg. Nadine und Stephan Maag züchten Schafe, produzieren Gemüse und Kräuter. Zudem bieten sie Gästezimmer und Familienferien im kleinen Tipi-Dorf an. Zum Haus gehört ein Gebetsraum, der allen Interessierten zur Verfügung steht.