Ein steter Balanceakt

Ein steter Balanceakt

Der Wald ist Lebensraum, Klimaregulator, Sauerstoffproduzent und Rohstoffquelle zugleich. Doch wie viel Eingriff ist nötig – und wie viel ist zu viel? Drei Fachleute aus Forstwirtschaft, Naturschutz und Tourismus geben Einblicke in ihre Perspektiven zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung.

Der Wald ist weit mehr als nur eine Ansammlung von Bäumen. Er reguliert das Klima, speichert Wasser, schützt den Boden vor Erosion und bietet unzähligen Arten einen Lebensraum. «Ein gesunder Wald ist ein fein abgestimmtes System, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat», erklärt Claudia Zenhäusern vom Verein health-and-forest. «Jeder Eingriff hinterlässt Spuren, und es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen haben.»

Bewirtschaftung am Beispiel Thanwald

Simon Salzmann, Revierförster Köniz-Längenberg,  betont die Bedeutung einer nachhaltigen Bewirtschaftung: «Die Forstwirtschaft steht vor der Herausforderung, den Wald als wirtschaftliche Ressource zu nutzen, ihn gleichzeitig aber auch für kommende Generationen zu erhalten.» Dies bedeute, dass Holz geschlagen werden müsse – aber in einem Umfang, der den natürlichen Erneuerungsprozess nicht gefährde. «Zu einer sinnvollen und nachhaltigen Waldbewirtschaftung gehört für mich die gesamtheitliche Betrachtung verschiedener Waldfunktionen und Interessen dazu. Holzproduktion, Schutz vor Naturereignissen, Biodiversität und Erholung schliessen sich nicht gegenseitig aus. Ich versuche dabei, alle Aspekte zu berücksichtigen und gemäss der Priorität zu gewichten. Diese Prioritäten sind je nach Waldungen unterschiedlich definiert.» Ein regionales Beispiel sind die Holzschläge im Thanwald bei Rüeggisberg. Hier wurden im vergangenen Sommer Bäume gefällt, die vom Borkenkäfer befallen waren. Zudem wurde ein Waldstrassenbauprojekt umgesetzt, da die alte Erschliessung nicht mehr den heutigen Anforderungen entsprochen habe. «An vielen Stellen konnte die alte Linienführung genutzt werden. Dort, wo das nicht möglich war, mussten einzelne Bäume für den Strassenbau gefällt werden.» Die Strassen seien notwendig, damit die vielen Privatwaldbesitzer (laut Salzmann ca. 100 verschiedene Privatwaldeigentümer) ihren Wald zeitgemäss und nachhaltig bewirtschaften könnten. «Das geschlagene Holz wurde zum grossen Teil an Sägewerke verkauft. Diese Werke stellen Holzprodukte her, welche zum Beispiel als Betonersatz im Hausbau eingesetzt werden. Was nicht für Holzbretter verwendet werden konnte, wurde zu Hackschnitzeln verarbeitet.»

Auch im Naturpark bemerkt man Auswirkungen der Waldbewirtschaftung. «Wir merken es vor allem indirekt, indem uns Ausflüglerinnen und Biker Rückmeldung geben, wie zum Beispiel, als im Thanwald das Waldwegli zu einer Strasse ausgebaut wurde», so Lydia Plüss, Geschäftsführerin des Naturparks Gantrisch. «Bei geplanten oder langanhaltenden Sperrungen von Wanderwegen werden wir meistens vorgängig informiert, und wir geben die Information dann an die touristischen Leistungsträger weiter.» Gantrisch Biking und Bike Region Voralpen, die regionalen Biker-Organisationen, seien intensiv mit den Waldbesitzern und Forstbetrieben in Kontakt, wenn es um Bike-Routen geht. «Die Bikerinnen und Biker beteiligen sich auch mit viel Freiwilligenarbeit am Unterhalt der Bike-Routen.»

Eine breite Palette an Anforderungen

Der Wald muss heute einer ganzen Reihe von Anforderungen genügen. Einerseits soll er Rückzugsort und Erholungsraum sein, anderseits soll sein Holz Baustoff und Energielieferant sein. Ist da eine Koexistenz von gesundem Wald und wirtschaftlichem und konsumtechnischem Profit überhaupt möglich? Lydia Plüss ist überzeugt: «Das Neben- und Miteinander der verschiedenen Waldnutzungen sollte das Ziel sein. Es ist wichtig, dass der Wald bewirtschaftet wird, dass jemand Sorge trägt zum Wald, damit er langfristig erhalten und gesund bleibt. Ebenso wichtig sind aber Waldreservate, die der Natur einen Rückzugsort bieten. Die Menschen dürfen und sollen sich in den meisten Wäldern aufhalten. Das ist gut für unsere Gesundheit und Erholung.»

Eingreifen – ja oder nein?

Eine zentrale Frage ist immer wieder, inwieweit der Mensch in das Ökosystem Wald eingreifen sollte. Während Vertreter der Forstwirtschaft argumentieren, dass gezielte Eingriffe notwendig seien, um Wälder widerstandsfähiger gegen den Klimawandel zu machen und den Wald gesund zu halten, sieht man dies bei health-and-forest kritisch. «Der Wald braucht den Menschen nicht, um sich zu regenerieren», sagt Claudia Zenhäusern. «Er hat sich über hunderte von Millionen Jahren ohne menschliche Eingriffe entwickelt und sich auch an immer sich verändernde klimatische Bedingungen angepasst – solange, bis der Mensch ins Spiel kam.» Ihrer Ansicht nach sind viele der aktuellen Bewirtschaftungsmethoden problematisch, da sie den Wald eher schwächen als stärken würden. Besonders kritisch sieht sie die Förderung sogenannter «klimafitter» Wälder und Waldverjüngungen, die häufig mit grossflächigen Abholzungen einhergehen. «Wir wissen heute noch nicht, ob diese ‹klimafitten› Baumarten tatsächlich besser mit dem Klimawandel zurechtkommen werden. Es braucht Jahrzehnte, um das herauszufinden.» Weiter seien Jungbäume auf ihre älteren Artgenossen angewiesen. «Wenn Jungbäume ohne die Mutterbäume und mit viel Licht aufwachsen müssen, mögen sie zwar schneller gross sein, der Preis aber ist hoch: Sie sind nicht sehr stabil und vor allem nicht resistent, weil ihnen viele wichtige Stoffe der Mutterbäume fehlen, die sie auch resistenter gegen Erreger machen.» Eine Auslichtung des Waldes führe zu Nährstoffknappheit; u. a. wegen der Verdichtung und Zerstörung der Böden und damit auch der Destruenten (Zersetzer), die den Jungbäumen Nährstoffe bereitstellen. «Zudem geben abgeholzte Gebiete während mindestens 30 Jahren kontinuierlich CO2 an die Atmosphäre ab.»

Simon Salzmann hält dagegen, dass die heutige Waldbewirtschaftung darauf ausgerichtet sei, Wälder langfristig stabil zu halten. «Der Vorteil eines sich stetig erneuernden Waldes ist, dass er viel besser in der Lage ist, CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen, den Kohlenstoff zu binden und den Sauerstoff wieder in die Atmosphäre abzugeben.» Durch die wärmeren Temperaturen und längeren Trockenperioden könnten gewisse Baumarten wie Weisstanne, Fichte und Buche in einigen Gebieten bereits heute nicht mehr überleben. «Der Wald könnte sich von selbst an den Klimawandel anpassen. Das hat er bereits über Jahrtausende so gemacht. Im Gegensatz zu früher geht der Wandel aber zu schnell, sodass sich der Wald von allein nicht mehr genügend schnell anpassen kann. Deshalb versuchen wir mit Baumarten, welche an die zu erwartenden Bedingungen angepasst sind, den Wald zu diversifizieren.»

Wie sehen zukunftsfähige Wälder aus?

Wenn wir, um diese Frage zu beantworten, erst einmal in die Vergangenheit schauen, wird klar: Sogenannte Urwälder (Wälder, die komplett sich selbst überlassen werden), gibt es heute in der Schweiz kaum noch. «Wir dürfen uns nichts vormachen», so Lydia Plüss. «Die Wälder, die wir kennen, sind schon lange nicht mehr naturbelassene Wälder. Sie wurden seit hunderten von Jahren vom Menschen genutzt, und viele Wälder sind sogenannte Sekundärwälder, die von Menschen gepflanzt wurden. Vor zirka 200 Jahren, bevor Kohle und Öl als Energielieferanten verfügbar waren, und als es noch viel mehr Landwirtschaft gab, waren die Wälder in der Schweiz und gerade auch in der Region Gantrisch zu grossen Teilen übernutzt und abgeholzt. Dank dem Waldgesetz wurde der Wald geschützt, und es wurden riesige Flächen an Wald wieder aufgeforstet.

In der Region Gurnigel-Gantrisch wurden in den Jahren 1840 bis 1960 2000 Hektaren Wald aufgeforstet. Dies entspricht einer Fläche von rund 2850 Fussballfeldern. Es wurden weit über 10 Mio. Bäume gepflanzt. Es sind damit die bedeutendsten Aufforstungen im Kanton Bern.»

Seit der Mensch damit begonnen hat, Holz als Ressource zu verwenden, fällt ihm damit auch eine grosse Verantwortung zu. Ein zukunftsfähiger Wald muss so bewirtschaftet werden, dass er all seine natürlichen Funktionen erfüllen kann und gleichzeitig widerstandsfähig gegenüber klimatischen Veränderungen bleibt. Die zunehmende Nutzung als Erholungsraum erfordert einen achtsamen Umgang, um Wildtiere und das empfindliche Ökosystem nicht übermässig zu belasten. Entscheidend für den Erhalt unserer Wälder ist ein respektvolles Miteinander von Mensch und Natur. Dies bedeutet nachhaltige Holznutzung, gesetzlich geregelte Bewirtschaftung und eine verantwortungsbewusste Erholungskultur, die den Wald als lebenswichtige Ressource schützt und erhält. Oder, wie Lydia Plüss es zum Abschluss formuliert: «Unsere Vorfahren haben es geschafft, den Wald zu retten, unsere Aufgabe ist es nun, ihn zu erhalten.»

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