Eines Tages im frühen Sommer begegnete ihm im Schönenboden aber eine seltsame junge Frau, die er nie zuvor in dieser Gegend gesehen hatte. Sie war von lieblicher Gestalt und trug ein sauberes Gewand, dessen Machart ihm gänzlich unbekannt war.
Mit klangvoller Stimme sprach sie den überraschten Jüngling an: «Du musst Peter von der Geissalp sein. Und ich sehe, es stimmt wahrlich, was sie sagen. In diesen Bergen kann es keinen schöneren Mann geben als dich. Welch ein ausgesuchtes Glück für mich, dir heute zu begegnen.»
Ohne Scheu begutachtete sie den strammen Burschen von Kopf bis Fuss und lächelte ihm wohlgefällig zu. Unvermittelt zog sie einen saftigen Apfel unter ihrem Fürtuch hervor und reichte ihn Peter mit einer graziösen Geste. «Nimm dies als Zeichen meiner Bewunderung für dich. Diese Frucht wird dich auf eine Weise erfrischen und erlaben, wie du es nie zuvor erlebt hast.»
Als Peter später im Schatten einer mächtigen Wettertanne ausruhte, hatte er den Apfel plötzlich wieder in der Hand. Die Verköstigung in der Alphütte war ziemlich eintönig, und die Gelegenheit, frisches Obst zu kosten, bot sich einem Hirten sommers eigentlich nie. Weil diese Frucht so unverschämt verlockend aussah, biss Peter unumwunden hinein. Ihr Geschmack war einzigartig, und sogleich durchströmte eine belebende Frische den jungen Mann.
Kurz darauf verspürte er plötzlich einen merkwürdigen Impuls. Als würde ihn eine innere Stimme dazu drängen, strebte Peter unwillkürlich dem grossen dunklen Wald am Ättenberg zu. Dort entdeckte er unversehens eine kunstvoll gezimmerte Hütte, die sich im Schatten der hohen Tannen verbarg. Ein kleiner Kräutergarten schlummerte vor dem Eingang. Aus dem Schornstein, der sich zierlich über die moosbewachsenen Dachschindeln hochschwang, kräuselte sich feiner Rauch. Die Fenster waren mit rötlich schimmernden Gardinen verhängt. Als er noch mit sich rang, ob er Nachschau halten sollte, wessen Heim dies wohl war, öffnete sich bereits die Tür und eine Gestalt trat heraus.
Es war die schöne Frau, die ihm den Apfel geschenkt hatte. Sie lächelte heiter und lud den Burschen auf einen Umtrunk und einen freundlichen Schwatz in ihre kleine Stube ein.
Als Peter die Hütte später wieder verliess, ging es bereits gegen den Abend zu. Dem jungen Mann war nach seiner Begegnung mit der freundlichen Frau ganz leicht ums Herz. Sie hatte ihm abermals einen ihrer Äpfel mitgegeben, auf den er sich jetzt schon freute.
Sobald er sich das schmackhafte Obst am nächsten Tag genehmigte, umschmeichelte sogleich wieder dieses warme, wohltuende Gefühl sein Herz. Es war ihm ganz und gar unmöglich, sich des unbestimmten Dranges zu erwehren, der Waldfrau auf der Stelle seine Aufwartung zu machen. So verbrachte er abermals den ganzen Nachmittag in der Gesellschaft der geheimnisvollen Schönen in ihrem abgeschiedenen Waldhaus. Peters Kameraden auf der Geissalp stellten fest, dass der Hirte von diesem Moment an wiederholt längere Zeit abwesend war. Immer wenn er zurückkehrte, hatte er einen seltsam verträumten Ausdruck auf seinem Gesicht und schien nicht recht bei Sinnen zu sein. Oft hielt er mitten in der Arbeit inne und klaubte einen strahlenden Apfel aus seiner Tasche hervor. Kaum hatte er diesen verzehrt, befiel ihn sogleich ein unbändiger Drang, wegzugehen. Meist kehrte er dann jeweils erst in den Abendstunden zurück. Niemals verlor er ein Wort darüber, was seine merkwürdigen Streifzüge zu bedeuten hatten.
Dem Meistersenn fiel Peters Sinneswandel besonders auf. Bis dahin hatte er sich auf den tüchtigen Burschen stets verlassen können. Keiner wusste so tatkräftig anzupacken wie er. Doch neuerdings schien er mit seinen Gedanken ständig woanders zu sein und versäumte mehr und mehr seine einfachsten Pflichten.
Als der junge Bergsommer gegen Santihans rückte und sich die Tage zunehmend in die Länge zogen, wurde das Gebaren des Hirten immer seltsamer. Der Meistersenn stellte seinen Gehilfen deswegen zur Rede, doch da blickte ihn Peter dermassen verstört an, dass er dem Älteren beinahe schon leidtat. Irgendetwas stimmte hier nicht. Der Jüngere hatte ein wahnhaftes Lodern in den Augen, als litte er an einer heimtückischen Krankheit.
Der alte Älpler liess Peter daraufhin im Keller einsperren und hoffte, dass er dadurch zur Vernunft zu bringen sei. Aber bei Einbruch der Nacht begann der junge Mann zu jammern und zu flehen, man möge ihn um Gottes Willen ziehen lassen. Als die Männer unnachgiebig blieben, schlug seine Stimme in wütendes Geschrei um. Verzweifelt schlug der Gefangene gegen die Tür und polterte zunehmend wie ein Besessener. Gegen Mitternacht steigerte sich sein Toben schliesslich zu einem unmenschlichen Kreischen. Es splitterte und krachte fortwährend im Keller, als zwicke den Peter ein böser Geist im Leib.
Der schlaflose Meistersenn befürchtete zuletzt, dass sich der Hirte in seinem Wahn womöglich noch ein Leid antun könnte.
Da hatte der umtriebige alte Bergler einen Einfall. Er stieg in die Schlafkammer hinauf und durchsuchte die Habe seines jungen Zuhirten. Wie vermutet fand er in dessen Ledertasche drei Stück jener merkwürdigen Äpfel, die derart verführerisch dufteten, als hätten sie eben noch am Baum gehangen. Ohne zu zögern ging er damit hinter die Hütte und warf das Obst in den Verschlag des Esels. Das Grautier stürzte sich sogleich auf die unerwartete Gabe und schlang die Früchte gierig hinunter.
Kurz darauf schien der Leibhaftige in den Hintern des Langohres zu fahren. Es begann zu röhren wie ein brünstiger Hirsch und verführte absonderliche Sprünge. Das aufgebrachte Tier hielt nicht inne in seiner Raserei, bis die Umzäunung unter seinen wuchtigen Tritten nachgab. Mit unbändigem Geschrei brach sich der Esel Bahn ins Freie. Daraufhin hielt er mit mächtigen Sätzen geradewegs auf den Ättenberg zu und verschwand in der Dunkelheit, um nie mehr zurückzukehren.
Peter verfiel kurz darauf in einen tiefen Schlaf, und als er wieder erwachte, wirkte er noch eine Weile entrückt und verstört wie nach einem erschütternden Traum. Er erholte sich jedoch rasch und konnte bald seine gewohnte Arbeit wieder aufnehmen.
Den ganzen restlichen Bergsommer hindurch sah man ihn keinen Apfel mehr essen, und er unternahm auch keine Streifzüge mehr in den Wald.
Frei nacherzählt nach Joseph Genoud