Die Hymne von Sangernboden

Die Hymne von Sangernboden

Sie standen bei hunderten von Auftritten auf der Bühne, haben tausende von Proben mitgemacht und unendlich viele Stunden an Festen mitgeholfen. Seit der «Jodlerklub Flüehblüemli Sangernboden» 1971 die ersten Takte gesungen hat, sind Hans Pfeuti und Alfred Michel mit von der Partie. Eigentlich gehören sie fast ein wenig zum Ortsbild. So wie das Kirchlein, das stolz über dem kleinen Weiler thront.

An der Talsohle, umgeben von steilabfallenden Bergflanken, schmiegen sich einige Häuser eng aneinander. Es scheint, als geben sie sich gegenseitig Schutz vor der kraftvollen Natur. Das Rauschen des Wassers war lange Zeit der alles «übertöhrende» Klang von Sangernboden. Ab und an ergänzt vom Glockenschlag des Kirchleins oder einigen Gästen, die lautmalerisch aus dem altehrwürdigen Gasthof Hirschen traten. Doch plötzlich, vor 50 Jahren, dringen ein Dutzend Stimmen aus dem Schulhaus. Sie vermählen sich mit dem Rauschen des Bachs zu einer ureigenen Melodie aus Sangernboden.

Schützenhilfe
In Zeiten, wo jeder Ort seinen eigenen Klub hatte, war es ganz erstaunlich, dass dieses kleine Flecklein Erde mitten in der Natur noch keinen sein Eigen nennen konnte. Das sollte sich dank der Schützen ändern. «Diese hatten eine gesangsfreudige Kameradschaft», erinnert sich Alfred Michel. Gleichzeitig suchten in Guggisberg Heidi Berger und einige Gleichgesinnte nach einer Möglichkeit zum Singen, der ortsansässige Klub «Guggerhörnli» jedoch war schon proppenvoll. Da kam der Wunsch der Schützen nach etwas mehr Gesang wie gerufen. «Sind wir ihnen denn auch genehm, selbst wenn wir Guggisberger sind», fragte sich Hans Pfeuti anfänglich. Obwohl er selbst im ortsansässigen Skiklub war und bis 1958 dort wohnte, war die Frage berechtigt. «Die Sangernbödeler sind schon ein eigenes Völklein, weit weg von Guggisberg», schmunzelt Michel. Historisch ist aufgrund dieser abgelegenen Lage das Kirchlein entstanden; zuvor mussten die Toten auf einem langen und beschwerlichen Weg bis ins 13 Kilometer entfernte Guggisberg zur Bestattung transportiert werden. Die Befürchtungen der Jodlerfreunde verflogen so schnell wie der Frühlingsschnee, als Schulhaus und Hirschen ihre Pforten weit öffneten und die musikalischen Guggisberger willkommen hiessen. Schon bald gesellten sich die ersten aus dem kleinen Dorf dazu. «Sangernbödeler waren immer mit dabei in unserem Klub. Im Laufe der Zeit erwies sich der kleine Ort als Hort vieler guter Sängerinnen und Sänger», fasst Pfeuti zusammen.
Erfolgswelle
Willi Werren hiess jener Mann, der in den Anfängen als Dirigent dafür sorgte, dass sich die verschiedenen Stimmlagen zu einem harmonischen Gesamtklang vermählten. «Er hatte kein Auto und wir nahmen ihn jeweils mit zur Probe», erinnert sich Michel. Zwei Jahre später folgte mit Ernst Wyler ein Dorflehrer und Vollblutmusiker. «Wir hatten ausgesprochenes Glück, solch solide musikalische Unterstützung erhalten zu haben», unterstreicht Pfeuti. Die Dirigenten hatten aber sicherlich ebenfalls Glück. Sie fanden zahlreiche talentierte Stimmen und schon bald mauserte sich der Klub zu einer festen Grösse, selbst an Eidgenössischen Jodlerfesten. «Wir wussten haargenau, dass wir keine Fehler machen würden», klingt Michel nach wie vor begeistert vom Niveau des Klubs. In Sangernboden gab es derweil noch eine weitere Familie, die musikalisch die Klänge des Wassers bereicherte: die Ländlerkapelle Krebs. Weitherum bekannt waren sie mit Flüehblüemli bald ein gutes Gespann, bis hin zum Tonstudio in Basel, wo der Klub seine erste Platte aufnahm. Fast hätten sie den Termin jedoch verpasst. Die ländliche Besatzung des Autos mit Heidi Berger übersah doch glatt im emsigen Treiben des Mittellands den Abzweiger nach Basel und war eine Zeit lang Richtung Zürich unterwegs.

Halbe Sensler
Die bedeutendsten Momente aber waren weder Tonaufnahmen noch die Wettkämpfe, nein, für die beiden Gründungsmitglieder ist klar: das waren die Auftritte in Sangernboden. Die Gastwirte Otto und dann Daniel Kilcher verwöhnten die Sängerschar und diese dankte es ihnen mit unvergesslichen Momenten. «Es war schon Viertel nach acht und die Leute standen noch immer die ganze Treppe entlang an, um in den Saal zu gelangen», erinnert sich Michel an den Andrang. Das waren natürlich nicht nur die Einheimischen, sondern auch jede Menge Senslerinnen und Sensler. Man sagt, die Haustüre gehe in Sangernboden Richtung Kanton Freiburg auf und der Ort ist eher nach Plaffeien gerichtet als nach Guggisberg. «Die Sensler waren uns gut gewogen. Das haben wir nie als selbstverständlich erachtet und im Laufe der Jahre entstanden viele Freundschaften und Beziehungen ins Sensegebiet», verweist Michel auf eine Klubeigenschaft, die bis heute anhält. Das Problem mit dem überfüllten Saal war damit natürlich nicht gelöst. Die Klubmitglieder beschlossen, einen mutigen Entscheid zu treffen. Für ihr Fest drangen sie noch tiefer ins entlegene Naturgebiet ein und veranstalteten fortan hinten im Muschernschlund auf dem «Schönenboden» ihr Fest. Der Name ist Programm. Am Rande eines Bächleins unweit der gleichnamigen Alp suchten sie sich wahrlich ein liebliches Flecklein aus. «Wir haben damit riskiert, dass manche den weiten Weg nicht unter die Räder nehmen wollten», erinnert sich Pfeuti. Doch die Befürchtungen zerschlugen sich so schnell und deutlich, wie die Wassertropfen im felsigen Bett der Muscherensense. Seit 30 Jahren gehört das «Schönenboden-Fest» zum Klubleben wie Notenblätter und Mutz.

Spuren der Zeit
Eines konnte aber im Laufe der Jahrzehnte nicht einmal der grosse Jodlerklub verhindern: Es ist ruhiger geworden um das ehemals so intakte kleine Dorf mit damals noch zwei Läden. Das vermochten weder die Sänger noch der weitherum bekannte «Hirschen» zu vermeiden. Die wenigen Kinder steigen in den Bus, um nach Guggisberg zur Schule zu fahren, der «Hirschen» sucht langsam aber sicher eine Nachfolge, um ein neues Kapitel als Wahrzeichen der Wildnis zu beschreiben. Darauf hofft ein ganzes Dorf, damit den altehrwürdigen Gasthof nicht dasselbe Schicksal ereilt, wie dem Romantik-Prachtsbau Schwefelbergbad, hinter dessen verschlossenen Türen und Fenstern man die Feste, die der Jodlerklub feiern durfte, kaum noch erahnen kann. Und die Jodler? Sie mussten weiterziehen; in den «Löwen Riffenmatt». Herzlich aufgenommen und verwöhnt, fühlen sie sich zwar sichtlich wohl, singen aber nicht mehr in Sangernboden. Heisst der Klub nun bald «Flüehblüemli Riffenmatt»? «Also über das wollen wir gar nicht erst diskutieren», winkt Michel ab. Obwohl sein Vater im damaligen Jodlerklub Riffenmatt mitsang, kommt so etwas nicht in Frage. Was die beiden Männer im Laufe der Jahrzehnte erlebt haben, verbindet, verwurzelt, verbrüdert mit dem entlegenen Ort. Das «Schönenboden-Fest» ist das unerschütterlich deutliche Zeichen dafür.

Langsam wird es Zeit, die Gläser auszutrinken und an die Probe zu gehen. Schon in wenigen Wochen lädt der Traditionsklub zu seinem grossen Jubiläumsfest und Konzert in der Mehrzweckhalle Riffenmatt ein. Wenn die beiden Grauhaarigen sich ins Halbrund der Sängerschar stellen, gehören sie längst nicht mehr zu den Jüngsten. Doch das motiviert sie. «Es ist eine wahre Freude, dass wir so viele junge Sängerinnen und Sänger haben», meint Pfeuti. Wo einst grosse Klubs aus weitaus grösseren Orten die Sangernbödeler umgeben haben, sind viele im Laufe der Jahre zu kleinen Gruppen geschrumpft. Die Flüehblüemler hingegen strotzen vor Lebensfreude. Zufall ist das nicht. Der Klub mag vielleicht bekannt sein für seine virtuosen Jodlerinnen und Jodler, beliebt für das Bewahren von altem Liedgut und den Juzen oder ab und an das Singen des Hintereggerliedlis. Was Hans Pfeuti, Alfred Michel und ihre Kameraden aber letztendlich ausmacht, ist ihre Natürlichkeit. «Statt nur einen Kuss einer alten Frau, entsende ich euch lieber einen ganzen Fünfliber», schrieb unlängst eine begeisterte ältere Dame, nachdem sie ein Geburtstagsständchen erhalten hat. Das ist die einzigartige Geschichte eines Klubs, dessen Wurzeln wahrlich tief in die wilde Natur reichen. Wenn das rauschende Wasser der Klang des Örtchens ist, dann werden die Melodien des «Jodlerklubs Flüehblüemli» zur Hymne von Sangernboden.

INFO
Das Jodlerfest 50 Jahre Flüehblüemli Sangernboden findet am 29. und 30. April in der Mehrzweckhalle Riffenmatt statt.

Teilen Sie diesen Bereich

Beitragstitel
Die Hymne von Sangernboden

Die meistgelesenen Artikel

Kontakt