Tewolde Debesay, 41, Eritrea / Äthiopien
Zusammen mit seiner Frau und seiner knapp zwei Jahre alten Tochter wohnt Tewolde in Riggisberg. Der Eritreer wurde in Äthiopien geboren, wo er die ersten Jahre aufgewachsen ist. Später wohnte er in Eritrea, 2014 floh er in die Schweiz. Der ehemalige Biologe arbeitet als Fachangestellter Gesundheit (FaGe) im Schlossgarten Riggisberg.
«Nachbarschaft ist ein weites Thema. In Äthiopien wird sie ganz anders gelebt als hier. Dort sind Nachbarn eng und eher wie eine Familie. Man hat ein gemeinsames Leben, nimmt am Leben der anderen Teil. Deine Kinder kannst du beim Nachbar lassen. Der Fokus ist dort nicht auf dem Individuellen, sondern auf dem Gemeinsamen. Braucht man etwas von der Nachbarin, geht man direkt fragen. Beispielsweise, wenn man ein Geburtstagsfest organisiert und man mehr Becher und Stühle benötigt. Oft helfen die Nachbarn dann auch dekorieren.
Als ich in die Schweiz kam, wusste ich bereits, dass es hier anders ist und konnte mich darauf vorbereiten. Hier wird Individualismus grossgeschrieben, man schaut eher für sich, konzentriert sich auf das eigene Leben. Gegenüber neuen Nachbarn ist man zu Beginn eher verschlossen. Schweizerinnen und Schweizer brauchen Zeit, bis sie sich öffnen, aber das ist auch OK so. Damit man in Harmonie zusammenleben kann, ist es wichtig, sich an die gängigen Regeln zu halten. Und davon gibt es hier viele. Die Toleranz für Lärm etwa ist gering, das ist anders als in Äthiopien. Grundsätzlich denke ich, dass Regeln und Struktur in der Schweiz kulturell stark verankert und akzeptiert sind. Für mich ist es nicht hier oder dort besser, man kann es auch gar nicht vergleichen. Anfänglich war es schwierig, denn man muss die neuen Gegebenheiten erstmal lernen und akzeptieren. In unserer Kultur laden wir manchmal viele Leute zu uns nach Hause ein, das Konfliktpotenzial mit Nachbarn aufgrund des Lärms nimmt dann zu. Und manchmal ist unsere Tochter sehr laut, da habe ich ein schlechtes Gewissen, aber sie ist ja ein kleines Kind. Ich versuche mich anzupassen, denn mittlerweile sind mir auch die unausgesprochenen Regeln verständlich. Neben denen kommt es natürlich auch immer auf die einzelnen Personen und ihr eigenes Verständnis von Nachbarschaft an. Beispielsweise ist sich meine Frau, die Äthiopierin ist, gewohnt, dass es zuhause und mit den Nachbarn eher ruhig ist. Für sie war es keine so grosse Umstellung. Und man gewöhnt sich durchaus auch an die Ruhe. Wenn ich nach Äthiopien reise, dann ist mir auch alles zu laut. Ich bin es mir jetzt anders gewohnt.
Was toleriert wird und was nicht, unterscheidet sich sicher auch im Dorf und in der Stadt. Ich sehe zum Beispiel bei meiner Schwester, die in Biel in der Stadt lebt, dass es dort anders ist. Die Toleranzgrenze ist in städtischen Gebieten wahrscheinlich höher. Und nicht nur auf den Lärm bezogen. Mein Start hier im Dorf war teilweise schwierig, zum Beispiel dann, wenn im Bus niemand neben mir sitzen wollte. Ich spürte, dass einige Leute, insbesondere ältere, Angst vor mir hatten. Hier im Dorf ist es natürlich nicht so multikulturell wie in der Stadt. Ich war damals einer der ersten afrikanischen Menschen hier und bin dementsprechend aufgefallen. Das war schwierig, aber es wurde immer besser. Meistens habe ich viele positive Erfahrungen gemacht, und ja, manchmal leider auch verletzende – auch wenn diese die Ausnahme darstellen. Ich hatte einmal einen rassistischen Nachbarn, der aufgrund meiner Herkunft etwas gegen mich hatte. Ich sprach es dann aber gleich an und wehrte mich. Solche Erfahrungen sind auch Teil meiner Realität und ich finde, man darf diese auch ansprechen.
Ob mir hier etwas fehlt? Ja, ich denke, die menschliche Verbindung. Jede und jeder ist hier für sich. Das verstehe ich. Aber manchmal frage ich mich: Wer sieht es, wenn einem etwas passiert, und wer kommt dann im Notfall, wenn man Hilfe braucht? Wir haben hier keine Familienangehörigen in der Nähe, deshalb stellen ich und meine Frau uns diese Frage oft. Dass man nicht alles mitbekommt, ist schon aufgrund der Häuserstruktur anders. In Äthiopien sind sie näher aneinander gebaut, dadurch merkt man auch schneller, wenn beim Nachbar etwas passiert.»
A. Mahlet, 37, Äthiopien (Name geändert)
A. Mahlet wohnt mit ihrer Familie in Lohnstorf. Sie lebt seit 2011 in der Schweiz und arbeitet als Pflegehelferin im Domizil Wohnheim Belp. Gerne würde sie zu einem späteren Zeitpunkt eine Lehre als Fachangestellte Gesundheit (FaGe) absolvieren.
«Für mich umfasst die Nachbarschaft die Personen, die mit mir zusammen im gleichen Gebäude oder Dorf wohnen. In Äthiopien begrüsst man sich draussen, trinkt zusammen Kaffe, bespricht aktuelle Themen und unterhält sich über die Kinder. Feiertage verbringt man zusammen. Dabei kommt es aber ganz darauf an, ob man in der Stadt oder im Dorf lebt. Ich bin in Addis Abeba aufgewachsen, dort ist natürlich alles weniger persönlich. Es gibt in meiner Heimat auch Dinge, die ähnlich wie in der Schweiz sind. Zum Beispiel grüsst man sich draussen und manchmal gibt es Strassen- oder Quartierfeste, an denen man sich sieht.
Hier im Haus wohnt auch noch die Vermieterin, sie ist eine sehr liebe und freundliche Frau. Vorher hatten wir eine andere Wohnung im Dorf gehabt, dann fragte sie uns, ob wir in ihre Wohnung ziehen möchten. Ich war sehr überrascht und habe mich gefreut. Aber ich koche oft, manchmal auch noch später am Abend. Zum Beispiel, wenn ich für die Kirche oder für eine Feier etwas vorbereiten muss. Ich habe sie dann darauf angesprochen, ob das für sie in Ordnung sei. Denn wenn ich koche, frage ich mich manchmal, ob das zu laut für die Nachbarn ist und ob ich das ändern muss. Störe ich damit jemanden? Hört man es sehr? Oder meine ich das nur? Manchmal bin ich deshalb gestresst und will alles möglichst schnell erledigen. Denn ich weiss, dass es hier anders ist. Das habe ich zwar nie direkt gelernt, aber beobachtet. Vielleicht hört und stört es aber gar niemanden, vielleicht ist das wirklich nur in meinem Kopf.
Hier im Dorf kenne ich viele und fühle mich wohl. Sonst wäre es wahrscheinlich schwierig. Ich bin dankbar und sehr froh, hier an diesem wunderschönen Ort zu wohnen. Meist bin ich glücklich. Dann gibt es aber auch einen Teil in mir, der sich manchmal schwer im Herzen anfühlt. Ich bin an einem anderen Ort aufgewachsen, deshalb vermisse ich mein Zuhause oft.
Im Dorf hatte ich schon viele schöne Begegnungen. Viel Unterstützung erhielten wir zum Beispiel auch von der vorherigen Vermieterin. Mit ihr haben wir immer noch Kontakt, gehen spielen oder sie kommt mit ihren Kindern zu uns. Das sind wichtige Personen für mich, für die ich sehr dankbar bin.»
Selahadin Amharay, 41, Eritrea
Selahadin Amharay lebt seit 10 Jahren in der Schweiz. Er wohnt in Riggisberg und arbeitet als Koch im Spital, wo er auch seine Ausbildung absolviert hat. Seine Frau und seine zwei Kinder leben in Kairo und warten darauf, endlich in die Schweiz kommen zu dürfen.
«Im Asylzentrum waren meine Nachbarn Menschen ganz unterschiedlicher Nationalitäten. Heute sind meine Nachbarn Leute aus dem Dorf und ich bin Teil der Gesellschaft – auch wenn ich nicht mit vielen Kontakt habe. Manchmal fehlt mir die Zeit dafür. Die Sprache spielt sicher auch eine Rolle. Denn wenn ich in Tigrinya spreche, kann ich mich natürlich ganz anders ausdrücken. Wenn ich auf Deutsch Dinge nicht genauso sagen kann, wie ich möchte, bringt das automatisch Abstand. Als ich in die Schweiz gekommen bin, war ich 31 Jahre alt. In diesem Alter lernst du nicht mehr so schnell neue Leute kennen, ich musste mich dann erstmal auf meine Ausbildung und Arbeit als Koch konzentrieren.
In Eritrea wohnen Familie und Freunde meist am gleichen Ort, man wächst miteinander auf, geht zusammen in die Schule und trifft sich, etwa zum Fussballspielen. So kennt man dann später als Erwachsener viele Leute aus dem Dorf. Allgemein leben dort sehr viele junge Menschen. Man trifft und hilft sich, zum Beispiel bei Hochzeiten oder anderen Festen. Wenn jemand heiratet, wissen es alle, ob man jetzt will oder nicht. Am Hochzeitsmorgen helfen dann alle mit, und es wird ein Fest fürs ganze Dorf.
In der Schweiz musst du dich immer anmelden, wenn du zu jemandem nach Hause gehst. Spontane Besuche gibt es kaum, das ist zumindest mein Eindruck. In Eritrea ist es nicht selten, dass die Nachbarin rausschaut und dich gleich einlädt. Treffen sind dort spontaner möglich. Hier fällt mir auch auf, dass man unter der Woche nicht zu lang bleiben will, wenn man am nächsten Tag arbeitet. Die Arbeit wird hier sehr hoch gewichtet. In meiner Heimat ist man da etwas lockerer, da bleibt man auch mal etwas länger und geniesst den Moment, auch wenn man am nächsten Tag natürlich trotzdem zur Arbeit muss. Ich vermisse mein altes Leben oft. Manchmal ruft mich ein Freund oder alter Bekannter an und wir sind mehrere Stunden am Telefon. So ist meine Heimat immer bei mir.
Hier im Dorf hat es noch andere Eritreer, die meisten haben jetzt ihre eigene Familie hier und deshalb natürlich auch weniger Zeit, sich zu treffen. Wir gingen früher zusammen spazieren, haben Ausflüge unternommen oder gemeinsam gegessen. Aber sobald man eine Familie hat, ändert sich das alles. Ich denke oft daran, dass meine Situation mit meiner Familie hier besser wäre. Durch die Kinder knüpfst du automatisch auch andere Kontakte. Ich vermisse meine Frau und meine Kinder, ich denke ständig an sie und hoffe, dass sie bald endlich in die Schweiz kommen dürfen. Mein sehnlichster Wunsch ist es, mir endlich ein Leben mit ihnen aufzubauen. Die Frage, wie es ihnen wohl geht, begleitet mich ständig. Eigentlich würde ich gerne eine höhere Fachschule besuchen, aber solange sie nicht hier sind, habe ich den Kopf nicht frei und kann mich nicht konzentrieren. Manchmal ist hier ein Märit. Wenn ich da Kinder mit ihren Eltern sehe, stimmt es mich traurig, ich vermisse meine Familie dann besonders.»
D. Tsang, 47, Tibet (Name geändert)
D. Tsang ist seit 10 Jahren in der Schweiz. Heute wohnt sie in Riggisberg, wo sie als Betreuerin in der Werkstatt im Schlossgarten arbeitet.
«Hat man im Tibet ein Problem, kommt gleich das ganze Dorf zur Hilfe, man arbeitet zusammen, vertraut einander. Deshalb bleiben auch die Türen stets geöffnet. Schweizerinnen und Schweizer brauchen mehr Zeit, bis sie einem vertrauen. Anfangs war es für mich deshalb schwierig. Es ist ja auch eine ganz andere Sprache. Als ich neu hier war, habe ich nichts verstanden. Beim Einkaufen begriff ich zum Beispiel nicht, was auf dem Produkt stand. Da kaufte ich vieles falsch, etwa Mehl anstatt Puderzucker oder Öl anstatt Essig. Mir ist es sehr wichtig, Deutsch zu beherrschen. Bei der Arbeit lerne ich fast nur Schweizerinnen und Schweizer kennen. Dort kann ich profitieren und verstehe mittlerweile auch Schweizerdeutsch.
Manchmal fühlt man sich einsam, man wäre ja lieber zuhause in seiner Heimat, wenn das ginge. Aber ich bin stolz auf alles, was ich geschafft habe. Und ich bin stolz und dankbar, in diesem Land Neues zu lernen und liebe Leute zu treffen. Ich konzentriere mich auf das Jetzt und will nicht zurückschauen.
Gibt man den Schweizern etwas Zeit, sind sie sehr freundlich. Auch wenn ich mich anfänglich fragte, ob sie Angst vor mir haben, weil ich nicht von hier bin. Damals wollten sie nicht reden. Aber mittlerweile fühle ich mich sehr willkommen und gut aufgehoben. Vielleicht auch, weil ich offen und hilfsbereit mit den Menschen umgehe. Ich bin sehr dankbar, dass ich in einem fremden Land lebe und hier die Gelegenheit habe, bei meiner Arbeit anderen Leuten zu helfen. Das mache ich von Herzen.
Riggisberg ist multikulturell, meine Nachbarn sind neben Schweizern zum Beispiel auch Leute aus Deutschland und Eritrea. Machnchmal habe ich den Eindruck, dass in der Schweiz alle zurückgezogen und festgefahren in ihrer Routine sind, so lernt man sich nicht so schnell kennen. Deshalb habe ich im Sommer meine Nachbarschaft eingeladen und für sie gekocht, so wie ich es in Tibet auch machen würde. Es war ein voller Erfolg, alle haben sich sehr gefreut.
Heute habe ich viele Bekannte in der Schweiz, eine Familie wurde für mich sogar wie meine eigene. Sie ist für mich heilig, denn sie hat mich bei allem sehr unterstützt. Wir sehen uns oft, vor allem am Wochenende. Wir kochen dann zusammen, sie Raclette für mich, ich Momos für sie. Ich mag Raclette sehr gerne und besitze sogar selbst einen Racletteofen.
Ausserdem geniesse ich es, draussen zu sein. Wir in Tibet sind sehr naturverbunden. Und auch das Wetter mit den vier Jahreszeiten gefällt mir, das bin ich mir gewohnt, denn wir haben ja auch vier. In meiner Heimat lebte ich in einem Dorf, deshalb gefällt mir das Dorfleben. Riggisberg ist wirklich ein schöner Ort, wo ich mich wohl fühle und der für mich jetzt wie eine Heimat ist. Ich bin sehr glücklich hier.»