Zur Überraschung der verstörten Männer waren die entrückten Tiere aber nach drei Tagen plötzlich wieder zurück, schweissbedeckt und ausgezehrt, wie wenn sie unentwegt über Berg und Tal gejagt worden wären. Erstaunlicherweise fanden sich Weizenkörner zwischen ihren Klauen, und in ihrem struppigen Fell hingen Weinlaub und Büschel von fremdartigen aromatischen Kräutern.
Im nachfolgenden Jahr wies der Meistersenn seine Leute an, vor der Züglete ins Tal besonders wachsam zu sein, um die Herde beim kleinsten Anzeichen aufhalten zu können, falls sie erneut rücken wollte. Man ging sogar soweit, die Tiere nachts im Stall anzubinden, damit sie auf keinen Fall entwischen konnten. Da schreckten die Bergler mitten in der Nacht auf, als ein mächtiges Rauschen über das Hüttendach daher zog. Im Stall erhob sich ein unruhiges Muhen und Stampfen. Als die Männer besorgt Nachschau hielten, konnten sie beobachten, wie sich Stricke und Riemen der festgebundenen Kühe von selbst aufknoteten. Wie von bösen Geistern gehetzt, drängte die ganze Herde zum Ausgang und rannte gegen die verschlossene Tür an. Keiner der Küherknechte wagte sich, der aufgebrachten Herde in den Weg zu treten, sonst wäre er wohl übel zugerichtet worden. Der Meistersenn öffnete einer guten Eingebung folgend im letzten Augenblick von aussen die Stalltür. Nun stürzten die rasenden Tiere wie ein knisternder Strom ins Freie. Als hätte ihnen eine unsichtbare Gewalt den Weg gewiesen, stürmten die Kühe vereint in südlicher Richtung den steilen Abhang hinauf, den zerklüfteten Felsschöpfen der Alpiglenmäre zu. Als die Herde bereits in schwindelerregende Höhe hinaufgestiegen war, ermannte sich der Meistersenn und rief die vorauseilende Leitkuh laut bei ihrem Namen, um sie zu stellen. Kaum hatten die hohen Flühe die befehlende Stimme des Mannes zurückgeworfen, strauchelte die angerufene Kuh unvermittelt und stürzte über den steilen Hang zu Tode. Jedem Tier, welches auf dieselbe Weise angerufen wurde, widerfuhr dasselbe Schicksal. Schliesslich verstummten die Männer und mussten ohnmächtig mit ansehen, wie das ganze Senntum in den dunklen Felsen verschwand.
Diesmal kehrten die entführten Kühe nach drei Tagen nicht zurück wie zuvor. Auf Alpiglen blieb es ruhig, und die Männer räumten die Alp, als der erste Schnee die vergilbten Matten zudeckte. Schweren Herzens gaben sie die verschwundenen Tiere verloren.
Als die Küher im darauffolgenden Mai mit einer neuen Herde auf die verwunschene Alp zogen, standen die vermissten Tiere vom letzten Jahr unvermutet wieder vor dem Stall. Sie wirkten allesamt mager und verwildert, doch war die Herde vollständig und sogar noch um die neu geworfenen Kälber des verstrichenen Winters erweitert. Diese wiedergefundenen Kühe erholten sich im Laufe des Sommers und gewöhnten sich allmählich wieder an die Nähe der Menschen, doch im Herbst ereilte sie unweigerlich dasselbe Schicksal wie in allen vorausgehenden Jahren. Ein vorwitziger Statterbub hatte den unfassbaren Mut, sich am Schwanz seiner Lieblingskuh festzuhalten, als diese mit der ganzen Herde den Flühen entgegen rauschte. Vor den entsetzten Augen seiner Kameraden verschwand er mitsamt den Tieren. Nach Ablauf von drei Tagen kehrten alle wieder zurück. Auch der Knabe tauchte wieder auf. Er hatte fortan ein seltsames Leuchten in den Augen und wollte kein Wort davon verraten, was er auf seiner seltsamen Reise erlebt hatte. Doch behielt er wundersame Gaben bis an sein Lebensende.
Man gewöhnte sich an dieses merkwürdige Vorkommnis auf Oberalpiglen. Das Kuhrücken schien eine schicksalhafte Bedingung zu sein, welche die unsichtbaren Mächte des Gebirges jenen Menschen stellten, welche diesen Weideberg nutzen wollten.
Eines Tages kam freilich ein neuer Meistersenn auf die Alp, welchem diese Sache zu bunt wurde. Er suchte deshalb einen Kapuziner im Freiburgischen auf, der im Ruf stand, etwas vom Bannen und Beschwören zu verstehen. Der Barfüsser beschied seinen Bittsteller aus den Bergen, dass er ihm gerne zur Seite stehen wolle, aber nur, wenn ihm für die Dauer des ganzen Sommers das erste und das letzte Wort auf der Alp zugebilligt würden. Der Meistersenn erklärte sich einverstanden – und als die Tiere wieder auf den Berg getrieben wurden, begleitete der Geistliche die Hirten und Sennen wie ein unheimlicher Schatten.
Alles blieb ruhig, bis sich der Bergsommer seinem Ende zuneigte. Der Hüterbub wurde auf das Vorsass geschickt, um die Hütte dort für den anstehenden Umzug der Herde vorzubereiten. Auf halbem Weg zur unteren Hütte begegnete ihm etwas Merkwürdiges: Auf einem Stein sass ein knorriges, krummes Männchen und flickte einen kaputten Schuh. Das Kerlchen hatte eine Haut wie Tannenborke und eine Nase wie eine erdige Wurzel. In seinen Augen lichterte es ganz unheimlich. Ohne zu säumen gab der Junge auf Oberalpiglen Bescheid, und nun übernahm der Kapuziner die Führung. Er befahl den Männern, die Herde sofort einzustallen und die Hütte in der darauffolgenden Nacht um keinen Preis zu verlassen. Als das verdächtige Rauschen über den knisternden Schindeln der Hütte urplötzlich einsetzte, sprang der Geistliche wie vom Blitz aufgescheucht von seinem Lager auf und verschwand eilends im Stall. Atemlos beobachteten der Meistersenn und seine Knechte durch das Oberlicht, wie die Herde durch die geöffnete Stalltür ins Freie strömte. Da brüllte der Kapuziner dem Meistersenn zu, schleunigst seinen Melkstuhl in hohem Bogen über die voraustrabende Treichelkuh zu schleudern und die drei höchsten Namen anzurufen. Kaum war dieser Akt vollbracht, verharrte das ganze Senntum auf einen Schlag. Die Tiere standen wie vom Donner gerührt. Kein Laut durchbrach die durchdringende Stille.
Da hob der Kapuziner einen Milchtrichter vor seinen Mund und liess einen Betruf erschallen. Kaum waren die fremdartigen Silben dieses beschwörenden Singsangs verhallt, kehrte wieder Frieden ein im Talkessel unter der Alpiglenmäre. Die Tiere liessen sich bereitwillig an ihre Plätze zurückführen und blieben fortan auf dem Berg, ohne je wieder von Geisterhand entführt zu werden.
Frei nacherzählt nach Emil Balmer und anderen Quellen von Andreas Sommer
Illustration: Martin Aeschlimann
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