Das heimelige Haus im finsteren Wald

Das heimelige Haus im finsteren Wald

Zu jener Zeit, als das Üechtland noch ein wilder und wegloser Landstrich fernab der vielbegangenen Strassen und Marktflecken war, verirrte sich nur selten ein Reisender in diese Gegend. Aber wer sich mit den unberechenbaren Mächten dieses urtümlichen Landes einliess, hatte mancherlei Fährnisse zu gewärtigen. Unbestimmbar war die Zahl jener, deren Spur sich im Üechtland verlor und die wohl einem unerfreulichen Geschick anheimfielen.

Waldläufer und Ortskundige wussten freilich von einem gastlichen Haus zu berichten, das sich an ungestümen Wassern mitten in der Wildnis befand. Auf einer verschwiegenen Waldlichtung raunte dem Wanderer dort eine gut instand gehaltene Hütte ihr freundliches Willkommen zu. Ein wohlbestellter Garten grüsste einladend hinter dem Zaungatter, welches dieses Heimwesen traulich umfriedete. Wer hier anklopfte, dem wurde stets aufgetan. Ein weissbärtiger, alter Mann mit einem warmherzigen Strahlen in den Augen pflegte einen jeden Gast mit einem aufrichtigen Lächeln zu empfangen und in seine behagliche Stube zu bitten. In der Herdstatt prasselte stets ein wärmendes Feuer. Im Kessel über den Flammen brodelte immerzu eine stärkende Suppe. Und in bauchigen Krügen reichte der Alte jedem Ankömmling einen würzigen Trunk, dessen unvergleichlicher Geschmack die erlittenen Entbehrungen des Weges sogleich vergessen liess. Wer eines Nachtlagers bedurfte, erhielt in der Obhut des Einsiedlers fraglos ein sauberes Quartier zugewiesen. Mit Auskunft über die verschlungenen Pfade durch Wald und Gebirge war der Häusler freigiebig zur Hand. Auch allerlei Gebresten und Wunden an Leib und Seele wusste der kundige Alte zu versorgen.

Was viele in Erstaunen versetzte: Der Einsiedler gewährte einem jeden Menschen Herberge unter seinem Dach, ohne zuvor nach dessen Stand oder Herkunft zu fragen. Genauso wenig kümmerte sich der wohltätige Wirt um Gesinnung oder Glaubenszugehörigkeit seiner Gäste. Fürstensöhne waren ihm gleich willkommen wie Bettler, er empfing Holzknechte und Harzbrenner nicht minder freundlich als königliche Kuriere und reisige Soldaten. Hirten und Sennen aus den Alpentälern, die sich auf dem Weg in die Stadt befanden, kehrten hier ein. Pilger und fahrende Schüler nahmen dankbar bei ihm Gastung. Verfolgte und Geächtete fanden in seiner bescheidenen Halle rettende Zuflucht. Ja nicht einmal Galgenvögel und Räuber wurden abgewiesen. Ein jeder Mensch, in dessen Brust ein lebendiges Herz schlug, fand hier wohlwollende Aufnahme.

Aber was alle erstaunte: Trotz der Vielfalt der Gäste fiel niemals ein böses Wort unter dem rauchgeschwärzten Dachfirst der altehrwürdigen Hütte. Kein Zank und kein Hader störten die einträchtige Ruhe im tiefen Waldesgrund. Es war beinahe so, als läge ein wundersamer Friedensbann über das Gut des alten Mannes gespreitet – und sobald jemand die Schwelle seines Heimes übertrat, war er nicht mehr in der Lage, niederträchtige Gedanken zu hegen, geschweige denn, feindselige Handlungen auszuüben. So mochte es geschehen, dass Berner und Freiburger, die einander aufgrund ihrer unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse lange Zeit spinnefeind waren, im «Haus des guten Mannes» gemeinsam zum Gebet niederknieten. Dass geflüchtete Kräuterfrauen, die draussen im Landgericht im Geruch der Hexerei standen, und Häscher der Inquisition in der Stube des Eremiten wie alte Freunde beieinandersassen. Dass Wildhüter und Jagdfrevler sich angeregt über die bevorzugten Einstände der Hirsche austauschten. Dass Schelme und Landjäger einander frohsinnig zutranken und selbander rührselige Volksweisen sangen. Todfeinde schlossen Frieden in dieser Hütte, unverbrüchliche Eide wurden hier geleistet, begangene Schandtaten vergeben und Bündnisse auf Lebenszeit beschworen. Manch ein Reisender, welcher in der Obhut des alten Wildhäuslers einkehrte, stellte sein Dasein unverhofft vollständig auf den Kopf und war nach seiner Weiterreise nicht mehr derselbe wie zuvor. Dabei sprach der Gastgeber seinen Gästen niemals ins Gewissen. Er machte ihnen keine Vorwürfe, predigte ihnen keine Moral und knüpfte keine Bedingungen an seine Dienste. Alleine seine Ausstrahlung und sein offenes Wesen regten das Gute in allen Einkehrenden an.

Für seine Gastfreundschaft nahm der Alte keinen Lohn. «Es kommt nicht von mir», pflegte er jeweils mit einem geheimnisvollen Lächeln zu sagen. «Alles, was du hier empfängst, ist eine Gabe des Landes.»

Nie hat jemand herausgefunden, wie der wohltätige Einsiedler in seiner gastlichen Hütte hiess, woher er kam oder welche Berufung ihn zu seinen guten Werken antrieb. Die einen hielten ihn für einen gottesfürchtigen Einsiedler, andere für einen Flüchtling, der in der Wildnis eine neue Bleibe gefunden hatte. Wieder andere vermuteten, dass er der untergetauchte Spross eines angesehenen Edelmannes sei, der in seiner Heimat in Ungnade gefallen war. Nicht wenige mutmassten freilich, dass er die Gunst des verborgenen Feenvolkes genoss und insgeheim als dessen Mittelsmann zu den umtriebigen menschlichen Nachbarn amtete.

Dass der ergraute Einsiedler kein gewöhnlicher Mensch sein konnte, verriet allein die Tatsache, dass er über Generationen hinweg immer dasselbe Erscheinungsbild bot. Wenn der Enkel in der Wildhütte einkehrte, fand er dort denselben Weissbart vor, welcher bereits seinem Grossvater in jungen Jahren Gastung geboten hatte. Über viele Zentennien hinweg hielt der rüstige Alte Hof mitten in der Wildnis, ohne dabei sichtbare Spuren der Alterung zu zeigen.

Eines Tages jedoch, als der raue Wind einer neuen Zeit durch das Üechtland wehte und sich die Menschen zunehmend dreister in die entlegensten Winkel des unermesslichen Waldes vorwagten, stand das «letzte heimelige Haus diesseits der wilden Lande» plötzlich leer. Die behagliche Stube war verwaist, das tröstliche Feuer erloschen.

Da ging ein wehmütiger Klageruf durch das Land. Denn mit dem gastfreundlichen Mann verschwand auch ein grosser Segen aus der Gegend. Lange noch konnten Reisende auf die zusammengesunkenen Trümmer der Einsiedlerhütte stossen. Bis in die jüngste Zeit soll man die steingemauerten Fundamente noch gesehen haben.

Inzwischen sind freilich auch diese verschwunden. Geblieben ist einzig die Erinnerung an eine einzigartig gute Seele, deren unerschöpfliche Liebeskraft in allen Menschen, die ihr begegneten, ein geschwisterliches Band von Friedfertigkeit und Respekt zu knüpfen vermochte.

Und ein Flurname auf der Landkarte zeugt bis heute von diesem heimeligen Haus und seinem Wirt: «Guetemaas Huus», zwischen Plaffeien und Sangernboden, am Zusammenfluss von Warmer und Kalter Sense.

Frei nacherzählt nach Nikolaus Bongard

Illustration: Martin Aeschlimann

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Das heimelige Haus im finsteren Wald

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