Einst streifte ein Holzschnitzer aus dem Guggisberg auf der Suche nach geeignetem Material für sein Handwerk durch den Bergwald. Da vernahm er unvermittelt einen fremdartigen Gesang von berückender Schönheit. Verstört durch diese unerklärliche Wahrnehmung suchte er das Weite, da er sich davor scheute, unverhofft in den lockenden Bannkreis einer Fee zu geraten. Als er das nächste Mal wieder in derselben Gegend unterwegs war, hörte er erneut dieses Lied. Aber erst bei der dritten Begegnung fasste er sich schliesslich ein Herz und versuchte, den Ursprung der zauberhaften Melodie zu ergründen. An einer schwer zugänglichen Stelle tief im Wald stiess er bald auf eine besonders schön und ebenmässig gewachsene Tanne, aus deren Holz die singende Stimme hervor zu strömen schien. Fassungslos bestaunte der Schnitzer diesen klingenden Baum. Später kehrte er wiederholt zu dem verwunschenen Ort zurück und lauschte immer wieder zeitlose Momente lang fasziniert dem Gesang der Tanne, welcher sein Herz mit Frieden und Glückseligkeit erfüllte.
Da er gelegentlich noch den alten Geschichten über Feen und Zwerge nachsann, beschloss dieser Mann eines Tages, die singende Tanne zu fällen und aus ihrem Holz eine Figur zu Ehren der Feenkönigin Helva zu schnitzen. Seine ganze Kunstfertigkeit liess er in dieses Werk einfliessen. Seiner Eingebung folgend entlockte er dem verzauberten Holz die Gestalt jener wunderschönen elbenhaften Frau, deren Bild ihm jedes Mal vor seinem inneren Auge erschienen war, wenn er der überirdischen Melodie der singenden Tanne gelauscht hatte. Auch wenn sich der zauberhafte Gesang nicht mehr vernehmen liess, waren viele Leute im alten Guggisberg überwältigt von der Ausstrahlungskraft dieses Standbildes. Da ihr offenkundig die Macht innewohnte, Eintracht und Zuversicht in den Menschen zu wecken, setzte der Bildhauer die Holzfigur auf den First seines Hauses und beobachtete mit Wohlgefallen, wie sich gleichsam ein sanfter tröstlicher Segen auf das Dorf legte.
Als die Prediger aus dem Kloster Rüeggisberg der ungewohnten Frauenstatue ansichtig wurden, fragten sie den Besitzer argwöhnisch, was dieses heidnische Götzenbild zu bedeuten habe. Geistesgegenwärtig erklärte der Holzschnitzer, er habe lediglich ein Bildnis zu Ehren der Gottesmutter geschaffen, um deren Gunst auf Guggisberg herab zu bitten. Fortan galt das Werk deshalb als besonders gelungene Darstellung der heiligen Jungfrau Maria. Über viele Generationen hinweg wurde sie in Guggisberg in hohen Ehren gehalten, denn die Leute spürten, dass ihre blosse Gegenwart dem Dorf Frieden spendete. Später wurde sie gar über dem Eingang des örtlichen Wirtshauses platziert und alle, die dort einkehrten, wussten zu bestätigen, dass im Innern der Gaststätte stets eine bemerkenswert einvernehmliche Atmosphäre herrschte und dass nie ein böses Wort fiel.
Viele Jahrhunderte später, als die Glaubenserneuerung wie ein Sturmwind von Bern aus über Hügel und Täler fegte, gelangten die Verkünder der Reformation auch nach Guggisberg. Gewaltsam drangen sie in Kapellen und Bauernstuben ein, um sämtliche Heiligenbilder und Marienfiguren herauszureissen und auf dem Dorfplatz zu einem Holzstoss aufzuschichten. In ihrem Eifer trachteten sie danach, alle Zeugnisse der alten, römischen Glaubenslehre zu verbrennen. Auch das Feenstandbild des Holzschnitzers fiel dem Wüten der Reformatoren zum Opfer. Mit Entsetzen betrachteten die erschütterten Dorfbewohner das Zerstörungswerk der blindwütigen Bekehrer. Aufgebracht griffen sie zu Äxten und Dreschflegeln, um über die unliebsamen Hitzköpfe herzufallen.
Als die Flammen bereits hochschlugen und die aufgehäuften Heiligtümer zu verzehren begannen, erklang aus den brausenden Feuerlohen jedoch unvermittelt ein wunderschöner Gesang, der die aufgeheizten Gemüter sogleich beschwichtigte. Anstatt wutentbrannt aufeinander loszustürzen, verfielen die Umstehenden sogleich in ein andächtiges Lauschen. Und als das Feuer zu einem glosenden Aschehaufen zusammengefallen war, lag die Jungfrauenfigur aus dem Holz der singenden Tanne unversehrt in der Brandstätte. Nicht eine Spur von Russ verunzierte das Kunstwerk. Keiner der Glaubensstreiter aus Bern wagte es, Hand an dieses machtvolle Bildnis zu legen.
Später verschwand die Frauenstatue spurlos aus Guggisberg. Es hiess, sie sei über die Sense in Sicherheit gebracht worden, denn am katholischen Freiburgerland zog der Bildersturm damals wirkungslos vorüber.
Ob uns das Feenbildnis des Holzschnitzers aus Guggisberg heute wirklich aus dem Marienbildnis in der Wallfahrtskirche von Bürglen ausserhalb der Stadt Freiburg entgegenlächelt, wie es die Überlieferung behauptet?
Und ob sie wohl in Notzeiten erneut den Frieden herbeizusingen vermag?