Rasch kamen wir ins Gespräch und Martha, so hiess sie, erzählte mir von sich und ihrem Leben. Obwohl ich noch gefühlte tausend Dinge erledigen wollte, gehörte meine Aufmerksamkeit Martha und rasch vergass ich die Zeit und lauschte vergnügt ihren Geschichten. Sie erzählte mir, dass sie zusammen mit vielen Geschwistern auf einem Bauernhof aufgewachsen sei. Damals gab es noch kein Telefon und auch keinen Fernseher und der Alltag war von Arbeit geprägt. Streng war es gewesen; sie und ihre Geschwister mussten auf Hof und Feld mitarbeiten. Obwohl sie nicht viel hatten, erlebte sie eine schöne Kindheit. Das Wunderbare sei gewesen, dass sie nie allein war, man habe immer Gesellschaft gehabt. Martha erzählte mir, dass vor ihrem Hof damals auch so eine lange, hölzerne Bank stand. Sie wurde still und ihr Bilck schweifte in die Weite, als gäbe es dort etwas ganz Besonderes zu sehen.
Ich wollte bereits aufstehen, als Martha meinte: «Weisch, grad a de Summerabete si mir Ching aube auii uf däm Bänkli vor em Huus ghocket.» Martha strahlte über das ganze Gesicht und erzählte mir von diesen Abenden im Sommer. Zusammen mit ihren Eltern und der ledigen Tante seien sie fast jeden Abend vor dem Hause gewesen und hätten über dieses und jenes gesprochen. Manchmal gesellten sich auch Nachbarn hinzu und wenn es an der Zeit war zum Schlafen, zückte ihr Papa seine Mundharmonika und begann zu spielen. Die Kinder erkannten jeweils die Lieder und stimmten in die Melodien ein. Martha erhob den Zeigefinger und meinte ernst: «Auso wisch, mir hi de aube mehrstimmig gsunge – fasch so wi imene Chor gäu, öppis angers hetts nid gä.»
«Jaja» meinte Martha schwelgend in ihren Erinnerungen «das isch für mi ä bsundersch schöni Zit gsi». Und nun sassen wir nebeneinander auf dem langen Bänkli und ich konnte mir ihre Geschichte vor Augen führen und war berührt von diesem schönen Bild. Der Tag nahm seinen Lauf und wir verabschiedeten uns voneinander.
In den nächsten Tagen hielt ich immer wieder Ausschau nach Bänkli im Dorf und einige wenige Standorte gelangen wieder in mein Bewusstsein. Bänkli gab es – zwar nicht so lange, aber Bänkli ist Bänkli, dachte ich. Doch wo waren denn nur die Menschen geblieben? Einige Bänkli waren bereits mit Moos bedeckt und andere wurden von langen Gräsern verziert. Offenbar kam da schon eine Weile kein Mensch mehr vorbei.
Zahlreiche Gedanken gingen mir durch den Kopf, weshalb Dörfer wohl manchmal so still erscheinen und rasch war ich daran, einmal mehr eine Schublade zu ziehen. Nach der Begegnung mit Martha wäre es mir gar recht gewesen, das Rad der Zeit etwas zurückzudrehen – doch war es früher wirklich besser? Ich glaube nicht, aber sicher einfach anders. Tatsächlich scheint es so, dass die Uhr heute schneller und lauter tickt als früher. Manchmal kommt es mir vor, als dass der technische Fortschritt und die damit verbundenen Möglichkeiten und Informationen uns nur so um die Ohren krachen. Zugegeben, diese Entwicklung und die daraus resultierenden Herausforderungen machen mir manchmal etwas Angst. Die Gesellschaft steht immer wieder vor grossen Herausforderungen und das war wohl immer so. Es ist gar nicht so einfach in der heutigen Zeit die Balance zu halten und nicht in ein Extrem zu fallen.
Und dennoch resultieren aus der Hoffnung zahlreiche wunderbare Geschichten, die von Menschen aus dem Hier und Jetzt erzählen. Seien es Nachbarn, die sich gegenseitig unterstützen, Eltern, die täglich ihr Bestes geben, Menschen, die Verantwortung übernehmen, Menschen, die zusammen ein Hobby teilen, oder gegen den Strom schwimmen, Menschen, die für andere da sind, Solidarität und Toleranz leben, Menschen, die anderen Zeit und Freude schenken.
Für mich persönlich tragen wir heute einen riesigen Schatz mit uns, der zwar in vielen Bereichen noch in den Kinderschuhen steckt, uns aber Schritt um Schritt in eine andere Zeit führt. Wir können über Dinge sprechen und diskutieren, die früher wegen gesellschaftlicher Gepflogenheiten undenkbar waren. Alte Zöpfe machen neuen Formen Platz und wenn es uns gelingt, diesen Schatz auszuweiten, alle Generationen in dieses Boot zu holen und mitreden zu lassen, dann kommt es gut. Ich hoffe, dass es mir persönlich gelingt, diese Offenheit durch mein Leben zu tragen.
Und falls die Welt doch wieder einmal zu schnell zu drehen scheint, sollten wir unsere Zeit nicht auf die lange Bank schieben.
Linda Zwahlen Riesen
«…verzeusch mer ä Gschicht»?
Vor dem Generationehuus steht ein langes Bänkli unter dem Titel «…verzeusch mer ä Gschicht»? und freut sich auf euren Besuch.