Wer in den 1980er-Jahren den Amtsanzeiger durchblätterte, suchte nicht nur nach Wohnungsangeboten oder Veranstaltungshinweisen. Viele Leser schlugen die Zeitung einzig deshalb auf, um die Verkaufsanzeigen von «Abraham» zu lesen. Dies waren jedoch keine gewöhnlichen Inserate. Es waren kleine literarische Kostbarkeiten, durchzogen von feinem Witz und einem Hauch Lebensklugheit. Hinter dem Pseudonym «Abraham» steckte Jakob Künzli. Inspiriert vom Schlager «Das Lied vom Trödler Abraham» von 1970 gab sich Künzli selbst diesen Namen und schuf damit eine Figur, die bald jeder im Dorf kannte.
Vom Bäcker zum Trödler
Jakob Künzli wurde 1929 im Kanton Aargau geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Nach einer Ausbildung zum Bäcker-Konditor arbeitete er ab 1951 als Vorarbeiter beim Berner Traditionsunternehmen «Chocolat Tobler». 1971 zog er nach Rüschegg und gründete eine kleine Transportfirma. Über zahlreiche Wohnungsräumungen kam der Tüftler mit allerlei Nachlass in Berührung, die er mit handwerklichem Geschick restaurierte und alten Gegenständen neues Leben einhauchte. Auf einer alten Heubühne richtete Abraham einen Verkaufsraum ein, der sich im Laufe der Zeit in eine wahre Schatzkammer verwandelte. «Doch viele Menschen kamen nicht nur wegen der Antiquitäten, sondern auch wegen der Gespräche», erinnert sich der Berner Künstler Gérard Widmer. «Der Trödler war ein Philosoph und Erzähler. Ein scharfsinniger Beobachter des Alltags, mit feinem Humor und einem unstillbaren Drang zu schreiben.» Im Laufe der Jahre entstand ein vielfältiges Sammelsurium handgeschriebener Texte: Notizen, Gedichte, Geschichten, verstreut auf Zetteln, in Heften, Schubladen und Schachteln.
Ein Schatz wird gehoben
In den frühen 1980er-Jahren illustrierte Widmer die beiden Bücher «Böses und Liebes(Geschichten)» sowie «Sinn und Widersinn». Sie enthalten eine Auswahl von Jakob Künzlis literarischem Schaffen. Den Anstoss dazu gab der Rüschegger Pfarrer Christian Grossen. Beeindruckt von Abrahams Handschriften, war er überzeugt: Dieser literarische Schatz durfte nicht im Verborgenen bleiben. Er setzte alles in Bewegung, gewann Künzli für das Vorhaben und wandte sich an den in Rüschegg lebenden Künstler Gérard Widmer. Er gewann ihn für das Projekt. «Ich freute mich sehr über den Auftrag. Aber es war eine riesige Arbeit», erinnert sich Widmer. «In seiner Werkstatt und Wohnung haben wir haufenweise Zettel und Notizbücher zusammengetragen.» Widmer, der die Texte nicht nur durchgesehen, sondern sie auch nach Themen sortiert hat, war fasziniert von deren Tiefe und Vielfalt. «Vor allem sein Humor war einfach köstlich», so Widmer. Die Texte inspirierten Widmer zu ausdrucksstarken Illustrationen, die den Ton und die Tiefe von Künzlis Sprache visuell einfingen.
Leiser Nachklang
1987 erlitt Abraham einen Hirnschlag, der ihm die Sprache raubte. Mit viel Geduld lernte er wieder zu schreiben. Im zweiten Band fertigte er sämtliche handgeschriebene Titel kreativ und mit viel Geschick an. Doch die Sprache kam nicht wieder zurück. 1989 kam es schliesslich zur ersten öffentlichen Lesung im Restaurant Bären in Rüschegg. «Das grosse Interesse war überwältigend, wir hatten sogar zu wenig Stühle», erinnert sich Widmer. 2009 starb Jakob Künzli im Alter von 80 Jahren. Auch wenn er heute keine neuen Geschichten mehr erzählen kann, leben
seine Worte weiter. Er sah das Grosse im Kleinen, das Wunderbare im Alltäglichen und vermochte es, mit einfachen Worten bleibende Bilder zu schaffen. Mit wachem Geist und einer stillen Weisheit ging er durch das Leben und hinterliess mehr als nur Trödel. Er hinterliess Spuren in Form von literarischen Kostbarkeiten.