Weil diese vermeintliche Grenze eben nicht nur regional verläuft, sondern einmal quer durch die Schweiz. Zieht man auf der Schweizer Karte vom Wallis eine Sprachgrenze bis hoch in den Jura, ergibt dies einen Bogen, fast schon eine Sense. Doch nicht deshalb ist das Senseland der perfekte Ort, um den Röstigraben und die Nachbarschaft zur Westschweiz zu beschreiben. Nein, weil hier auch der Beweis verborgen liegt, dass es den Röstigraben gibt, obwohl einige meinen, dass es ihn nicht gibt. Doch beginnen wir von vorne, am Quell der Sense, wo der Graben noch kein Wässerchen trüben kann.
Ein gemischter Salat an Wörtern – mit französischer Sauce
Der Sensler-Dialekt ist reich an einzigartigen Begriffen. Eine ganze Schatztruhe voll entspringt dem Französischen. «Tampi» [frz. Tant pis = na und, was soll’s], «pattiniere» [frz. patiner = Schlittschuh laufen], «wala» [frz. voilà = nun halt] sind nur ein paar Beispiele. Selbst grammatikalisch lehnt der Sensler-Dialekt am Französischen an. «Di Spraach chùnnt fasch im ganze Seisebezirk gredt» [Diese Sprache wird fast im ganzen Sensegebiet gesprochen]. Die Passivform «werden» wird, wie im Französischen, mit «kommen» ersetzt. Akkusativ und Dativ fallen zusammen, «I deiche a dier» [Ich denke an dich]. Also kein Grammatikfehler, wie die Berner ab und an frohlocken, sondern eine Anlehnung an das Französische. Und dem hochmütigen Berner Kritiker der vermeintlichen Sprachverarmung, dürfte die Rösti im Hals stecken bleiben, wenn man ihm entgegenhält: Französisch hat auch im Berndeutsch Einzug gefunden. Ach was heisst hier Berndeutsch, im ganzen Schweizerdeutschen. Sagen die Deutschen Nachbarn «Sosse», schreiben wir französisch korrekt «Sauce», wir haben nach wie vor keinen Geldbeutel, sondern ein Portemonnaie und wir gehen zum Coiffeur und nicht zum Frisör. Und die Moral der «Sprachgrenzen» ist: Sie verlaufen so fliessend wie die Sense.
Abgrenzung als Identität
Das Gantrischgebiet und der Sensebezirk standen zeitlebens mit der Westschweizer Nachbarschaft im Austausch. Nicht nur sprachlich. Einst wurde das günstigere Freiburger Salz in Sangernboden heimlich mit den Bernern gehandelt und im Hirschen gelagert. Noch klarer wird die Verschmelzung, wenn man die trotzige Ruine der Grasburg im Sensegraben hinzuzieht. So ruhig, wie die Sense den Felsen umschmiegt, waren die Zeiten wahrlich nie. Die Grasburg hatte im Spannungsfeld von Bern und Freiburg mal den einen, dann den anderen Besitzer.Das Bistum Lausanne, zu dem auch Köniz gehörte, gegen die freie Reichsstadt Bern. Nach der Reformation markierte der Sensegraben – mit Ausnahme der Gegend von Albligen – auch die Konfessionsgrenze. Der nördlichste Vorposten der Savoyer, die Grafschaft Grasburg, wurde arg bedrängt. 1423 einigten sich Freiburg und Bern, die Grafschaft zu kaufen und gemeinsam zu führen, bis diese 1803 schliesslich als eigenständiger Bezirk an Bern überging. Umkämpft und dann trotzdem gemeinsam geführt. Die Grasburg mitten im Röstigraben steht wie ein Mahnmal für die ambivalente Situation. Obschon der Einfluss der Westschweiz hierzulande allgegenwärtig ist, sucht man die Unterschiede, das Anderssein, mitunter das Bessersein. Wieso tun wir Menschen das? Aus Selbstschutz, um eine Identität zu haben, Wurzeln, Heimat. Solch Verhalten findet sich überall auf der Welt. Doch in einem so grenzumkämpften Gebiet, das noch dazu jahrhundertelang mausarm war, verläuft die Identitätssuche später und intensiver.
Eine folgenreiche Erfindung
Beispiele finden sich zuhauf. Die Sensler sehen sich etwa im Kanton Freiburg einer französischsprachigen Übermacht ausgeliefert. Oft geht das Deutsche als zweite Amtssprache vergessen, die Sensler Politiker müssen sich durch dicke französische Dossiers kämpfen, Sitzungen werden explizit auf Französisch gehalten. Die Deutschschweizer kennen das: Selten versuchen sich die «Romands» im Deutschen und lassen geduldig die Deutschsprachigen ihre wackeligen Satzkonstellationen bauen. Das sei, weil sie eben nur Hochdeutsch lernen oder weil sie sich zieren, behaupten die meisten. Mit Verlaub, das ist an der Oberfläche gekratzt. Viel bedeutsamer mag eine soziologische Komponente sein. Minderheiten fühlen sich naturgemäss immer bedrängt. Aus diesem Grund erfolgt ihre Identitätsstärkung oft so, dass man seine Gepflogenheiten nicht nur hegt, sondern regelrecht schützt. Zum Leidwesen der Sensler. Doch die Deutschschweizer sind kein Spiegelei besser. Sie trotzen. Was daraus erwächst, sind übertriebene Beschreibungen der welschen Andersartigkeit. Die Romands seien faul, tränken lieber Wein als zu arbeiten und würden nicht alles so bierernst nehmen (wie auch, wenn man Wein trinkt). Klischees sind scharfe Spaten, die den Graben vertiefen. So wie sich die Sense im Laufe der Jahrhunderte immer mehr in ihr Bett frisst. Da hilft es wenig, wenn Journalisten in den 1970er-Jahren das Wort «Röschtigraben» erfinden. Doch diese Sichtweise ist so eingeschränkt wie jene eines Zugpferdes mit Scheuklappen vor den Augen. Wieso, fragen Sie sich? Nun denn, weil es Brücken gibt. Sie verbinden, vereinen und ebnen in dieser hügeligen Landschaft den einst so beschwerlichen Weg. Und das hat Symbolcharakter. Der US-amerikanische Anthropologe Clifford Geertz machte die Wissenschaft darauf aufmerksam, dass man kein Volk, keine Gruppierung als homogen betrachten kann. Sie definiert sich über den Austausch mit den Nachbarn. Nur so lassen sich Identität, Konflikt und Mentalität erklären. Und heute? Heute leben Freiburger in Bern, Berner im Sensebezirk, Ehen werden über die Konfessionen hinweg eingegangen. Berner bejubeln Gottéron (ja, das gibt es tatsächlich) und es gibt Freiburger, die dem SCB die Daumen drücken (klingt merkwürdig, ist aber so). Den Austausch kann man – glücklicherweise – nicht wie im Digitalen an- oder wegklicken, er ist Bestandteil unserer Gesellschaft. Mehr denn je.
Die Nachbarschaft zwischen den Welschen und den Deutschschweizern ist keine gute und keine schlechte, es ist eine natürliche. Unterschiede werden mit Humor verziert. Die Westschweizer werden mit den Franzosen verglichen, dabei würde kaum ein Westschweizer zu Frankreich gehören wollen. Die Deutschschweizer werden mit Deutschland verglichen, dabei gibt es auch da wieder viele Abgrenzungen. Gute Nachbarn leben nie in völliger Harmonie; man mag den Gartenzwerg des Nachbarn nicht, füttert aber trotzdem seine Katze. So ist das auch zwischen der Westschweiz und der Deutschschweiz. Die Sense fliesst unentwegt entlang dieser gegenseitigen Abhängigkeit. Als Röstigraben? Nur für diejenigen, die am Abgrund stehen und hinunter schauen. Für all jene, welche die Brücke nutzen, verbinden sich Kulturen, Grenzen verschmelzen und das Leben wird vielfältiger. Doch halt, manch einer bleibt auf der Mitte der Brücke kurz stehen. Nicht weil er an eine Umkehr denkt, sondern weil er die ganzen Halbwahrheiten in die Sense schmeisst, damit der Graben kleiner wird und die Nachbarschaft besser.
Brief an den Röstigraben
Lieber Röstigraben
Als Romand, der seit langem im Kanton Bern lebt und im Sensekanton Freiburg seine Ausbildung genossen hat, bitte ich dich, dass du mir gestattest, einige Zeilen zu schreiben. Ich weiss, dass du schon so oft verschrieben, verzerrt und verunglimpft wurdest. Ich will mich nicht einreihen, ich möchte dir huldigen. Und du wirst es gut brauchen können. Denn seit wir einen Bundesrat mit dem Namen Rösti haben, läufst du Gefahr, missverstanden zu werden. Dabei versucht ein Bundesrat eher Gräben zuzuschütten, statt aufzureissen. Nein, reissen tun bei Bundesrat Albert Rösti nur die Wölfe und zwar zu viel und zu oft. Deshalb zurück zu deiner eigentlichen Bedeutung als sprachliche, ja sogar kulturelle Grenze zwischen den Romands und den Deutschschweizern. Gestatte mir als notorischem Grenzgänger zwischen den Regionen dir mit gebührendem Respekt entgegenzutreten und dich aus der Dunkelheit der Klischees zur befreien.
Hochachtungsvoll,
Sacha Jacqueroud