Es stimme ihn traurig, wenn man ganze Personengruppen unter Generalverdacht stelle, Pauschalurteile fälle. «Damit werden Gruppen von Menschen entmenschlicht, es wird ihnen das Recht genommen, sich vorzustellen, ohne schon zuvor verurteilt zu werden», sagt Winkler in seinem Bürozimmer zuhause in Riggisberg, wo er seit 2005 mit seiner Familie lebt. Eigentlich sollte das Gespräch heute um ihn gehen. Doch nach kurzem Schwank zu seiner Kindheit und seinem Werdegang wechselt er das Thema. Er spricht von dem, was ihn als Pfarrer, als Privatperson und als Einwohner von Riggisberg stark umtreibt: die Integration von geflüchteten Menschen.
Zuhause auf Zeit
Der Riggisberger setzt sich neben seiner Funktion als Pfarrer auch als Privatperson schon lange für geflüchtete Menschen ein. Als 2014 in der Gemeinde ein Asylzentrum öffnete, wurden viele kritische Stimmen laut. Umso mehr war es Winkler ein Anliegen, dass sich die Kirchgemeinde für diese Menschen einsetzte. «Es war mir wichtig, dass wir ihnen anständig und respektvoll begegnen», sagt er. Das Asylzentrum schloss im Januar 2016, 7 Jahre später, im Januar 2023, richtete der Kanton eine Kollektivunterkunft im Gurnigelbad ein. Heute finden dort 170 Leute ein Zuhause auf Zeit. Einige von ihnen sind nur vorläufig aufgenommen. Sie erhalten einen zeitlich befristeten Schutzstatus und müssen, sobald es die Sicherheit ihres Herkunftslandes erlaubt, dorthin zurückkehren. Andere warten auf den Bescheid, wie es für sie weitergeht. Auf engem Raum, ohne Perspektiven, ohne Möglichkeiten zu arbeiten.
Entgegenwirken
Eine Situation, über die Winkler den Kopf schüttelt. Er beugt sich vom Stuhl etwas nach vorne, während er mit seinen Armen gestikuliert. «Diese Menschen wollen arbeiten. Die Politik bedient gerne das Vorurteil, dass sie faul und kriminell seien. Dem will ich entgegenwirken und aufzeigen, dass wir andere Erfahrungen machen.» Das tut Winkler neben seinem Engagement bei der Aktionsgruppe Nothilfe und bei riggi-asyl auch durch öffentliche Medienarbeit. So gab er bereits unzählige Interviews und schrieb Gastbeiträge, etwa im Berner Landboten, im Bund oder in der NZZ. Er scheut sich nicht, auch unangenehme Gespräche zu führen. Zum Beispiel mit Politikerinnen und Politikern aus dem kantonalen wie nationalen Parlament oder mit Angestellten des SEM (Staatssekretariat für Migration).
Freiwilliger Einsatz
«Viele wissen nicht, dass rund zwei Drittel der Personen, die in der Schweiz Asyl beantragen, einen Schutzstatus erhalten. Sie sind also nur vorläufig aufgenommen, eine Rückkehr ist im Moment aber nicht zumutbar.» Diese Menschen seien häufig aus Kriegsgebieten, entgegen der oft falschen Annahme, sie seien ja gar keine Geflüchteten. Untergebracht werden die Menschen in Unterkünften, die sich häufig am Rande der Zivilisation befinden. Wieder ein Kopfschütteln. «Das trägt nicht gerade zur Integration der Menschen in diesen Unterkünften bei», findet Winkler. Deshalb sei zivilgesellschaftliches Engagement umso wichtiger. Insbesondere beim Spracherwerb, der eine Schlüsselqualifikation für die Integration darstelle. «Wir alle wissen ja selber, wie schwierig es ist, sich an einem Ort zu verständigen, wenn man die Sprache nicht beherrscht.» Doch zivilgesellschaftliches Engagement helfe noch viel mehr, weiss er aus eigener Erfahrung. Freiwillige hätten beispielsweise oft die nötige Ortskompetenz, wenn es in einem späteren Schritt um eine Stellensuche oder auch nur um eine erste Joberfahrung gehe.
Von den Eltern geprägt
Seinen unermüdlichen Drang, geflüchteten Menschen zu helfen, Brücken mit ihnen und für sie zu bauen, hat Winkler wohl auch von zuhause mitbekommen. Der gebürtige Worber verbrachte den grössten Teil seiner Kindheit in Dietikon. Dort machte er eine KV-Lehre. «Das war gut und recht, aber bald war mir klar, dass ich etwas mit Menschen machen möchte», erklärt er. So wurde er, auch durch «erbliche Vorbelastung», wie er es selbst nennt, schliesslich Pfarrer. «Mich haben das Thema Glaube und die Auseinandersetzung mit Sinn- und Lebensfragen nicht losgelassen.» In den 80er-Jahren lebte das drittjüngste von acht Geschwistern mit seinen Eltern sowie Kamil und Baskaran zusammen. Beide wurden für Winkler zu Geschwistern, erzählt er, während er Familienfotos von früher über den Tisch reicht. «Baskaran ist aus Sri Lanka, Kamil ein Kurde aus der Türkei. Meine Eltern lebten mir vor, was es bedeutet, andere Menschen mit offenen Armen zu empfangen.»
Aufblühen wie ein Pflänzchen
Heute leben 25 Menschen in Riggisberg, die dort einst im alten Asylzentrum waren. Ihre Integration freut Winkler besonders. Und motiviert ihn, weiterzumachen. «Es ist schön zu sehen, wie diese Menschen sich bemühen und es viele schaffen, unabhängig zu leben.» Es mache ihm auch grosse Freude, wenn Jugendliche ihre Lehre abschliessen können oder wenn eine Familie mit erschwerten Rückkehrbedingungen einen positiven Bescheid erhält und in der Schweiz bleiben dürfe. «Wenn ich dann sehen darf, wie sie plötzlich wie ein Pflänzchen aufblühen, ist das für mich unbezahlbar.» Er sei privilegiert, ihm gehe es gut, er dürfe mit seiner Familie in einem Haus wohnen. Deshalb sehe er es als Pflicht und auch als Ehre, sich für geflüchtete Menschen einzusetzen. Denn: «Jeder Mensch hat ein Recht auf Sicherheit, Freiheit, Autonomie und gesellschaftliche Partizipation.»
Differenzierter Blick
Die harte gesellschaftliche Stimmung trage dazu nicht besonders viel bei. Anstatt ganze Gruppierungen von Menschen zu Sündenböcken zu erklären und anzuschuldigen, wünsche er sich den Bezug auf die tatsächlichen Fakten, auf die tatsächliche Realität von Geflüchteten, so der Riggisberger. «Ich bin mir bewusst, dass ich sehr optimistisch eingestellt bin und gewissermassen in einer Blase lebe.» So versteht er es denn auch, wenn Leute Angst vor Kriminalität haben, nachdem sie diese mitbekommen oder sogar selbst erlebt haben. Doch Daniel Winkler ist überzeugt: «Der Mensch hat die Möglichkeit, gewisse Situationen mit Verstand und differenziert zu betrachten. Dem Gegenüber ohne Vorurteile entgegenzutreten, die Chance geben, sich zu zeigen, Platz zu schaffen für Begegnungen. Brücken zu bauen.» Da ist es wieder, das Wort, das verbindet, anstatt zu entzweien. Eines, das vereint, anstatt zu polarisieren. Eines, das uns als Gesellschaft auch zukünftig beschäftigen wird. Ob wir nun wollen oder nicht.