«Bisch schüüch?» Zoé* steht bewegungslos da, nennt ihren Namen nicht, antwortet nicht, vermeidet den Blickkontakt und scheint wie versteinert. Doch schüchtern ist sie nicht, denn sie «taut nicht irgendwann auf» und kommuniziert dann doch, sondern bleibt das stille Kind – wenn auch nur in der Öffentlichkeit. Denn daheim, im vertrauten Umfeld, plaudert sie unentwegt, ist laut, verschafft sich Gehör, singt und fordert, lacht und erzählt. Zoé ist selektiv mutistisch.
Es «verwächst» sich nicht
Betroffene Menschen können in manchen Situationen nicht sprechen, obwohl sie gerne möchten. Sie haben eine relativ selten vorkommende, angstbedingte Kommunikationsstörung, die meist schon im frühen Kindesalter und nach vollzogenem Spracherwerb auftritt. Die Eltern der heute fünfjährigen Zoé aus einer grösseren Ortschaft in der Region Gantrisch hörten vor der Diagnose immer wieder von Aussenstehenden: «Das verwächst sich schon wieder.» Doch selbst nach unzähligen Einkäufen in der Drogerie verriet Zoé an der Kasse nicht, welche Farbe Traubenzucker sie gerne hätte. Sie spielte zwar fröhlich in der Spielgruppe, blieb jedoch auch im zweiten Jahr komplett stumm. Seit knapp einem Jahr ist sie in Therapie, als grosses Etappenziel formulieren die Eltern, die anonym bleiben möchten, dass ihre Tochter beim Kindergartenstart im August mit der Lehrerin und ihren Gspänli reden wird.
Kaum eigene Identität gefunden
Etwas weiter «ab vom Schuss», auch im Naturpark Gantrisch, wohnt Paul Wirth*. «Im Kindergarten fiel mir auf, dass die anderen Kinder frei sprachen und ich dabei nicht mithalten konnte», schaut er zurück. Erst später, während der Schulzeit, erhielt er die Diagnose: selektiver Mutismus. Der Mittvierziger, der ebenfalls anonym bleiben möchte, litt massiv unter der Angststörung: «Es war und ist schwierig, so Freunde zu finden. Ich hatte immer Mühe, eigene Bedürfnisse zu äussern. Mit der Konsequenz, dass ich diese unterdrückte und so nie wirklich eine eigene Identität finden konnte.» Noch während der Schulzeit fing er mit einer Therapie an, doch damals habe es noch kein wirkliches Konzept gegeben. Auch heute noch werde zu stark auf das Symptom «Sprechangst» fokussiert, sagt er. Bei ihm hingegen zeigen sich die Schwierigkeiten auch, wenn er etwas schreiben muss. Er ordnet den Mutismus darum in zwei Bereiche ein: «Da sind einerseits die Angst, zu sprechen, und andererseits die Blockaden.» Wenn diese auftauchen, sei der Zugang zu den eigenen Gedanken «einfach weg», erzählt er. Was die Ängste bzw. die Sozialphobie verstärke. «Aber was ist der Auslöser? Sind es Ängste, ist es Überlastung?», fragt er. Aus seiner Sicht werde diesem Aspekt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Den Mund aufwecken
Bei Zoé läuft die Therapie soweit gut. Vom Kanton erhielt die Familie vorerst eine Kostengutsprache für zwei Jahre Logopädie; die Eltern fahren zweimal pro Woche zur Mutismusfachstelle in Bern. Anfänglich sprach die damals Vierjährige auch dort kein Wort. Ihre Logopädin Laura Schaerer begann darum, auf spielerische Art und Weise «den Mund aufzuwecken». Dampflok- und Tiergeräusche nachahmen waren erste Schritte, weitere Laute kamen hinzu, schliesslich wurden es Worte. Nach einigen Wochen fühlte sich Zoé so sicher, dass sie frei zu plaudern begann. Nun gilt es, diese Erfolge nach aussen zu tragen. Im Mai besuchte Schaerer mit Zoé deren zukünftigen Kindergarten. «Wir bereiten sie schrittweise auf den Start vor», erklärt sie.
Therapie und Mutschritte
Je früher der Therapiebeginn, umso besser. Denn später habe sich das Muster eingeschliffen, dazu kämen im Jugend- und Erwachsenenalter oft eine Depression und Sozialphobie dazu, was die Therapiezeit verlängere, so die Logopädin. Zudem nehme man je länger je mehr den Mutismus als Teil der eigenen Persönlichkeit wahr. Ob jung oder schon älter: «Es geht darum, die zugrundeliegenden Ängste mitzubehandeln und zu lernen, sie zu steuern, anstatt sich von ihnen steuern zu lassen. Die Sprache ist der Schlüssel dazu, denn sind die Wörter da, bekommen wir Handlungsspielraum.» Der Erfolg kann zudem nur kommen, wenn das ganze Umfeld mithilft. Zoés Eltern haben mit ihrer Tochter Mutaufgaben definiert, zum Beispiel, die Nachbarin zu grüssen. Nach zwölf «Kleberli» gibt es eine Belohnung. «Tägliches Üben überspielt das alte Muster und wird zur neuen Gewohnheit», erklärt Schaerer.
Soziale Isolation
Paul Wirth hat seine Schulzeit gemeistert und absolvierte eine Berufsausbildung. Doch der Mutismus liegt weiterhin wie eine dunkle Wolke über ihm: «Es sind vor allem die Begleiterscheinungen wie soziale Isolation, Depression und eine hohe Grundanspannung, die mir zu schaffen machen.» Denn bereits Alltagsherausforderungen wie Termine abmachen und sie wahrzunehmen, lösten viel Stress in ihm aus. Dazu kommt: «Bei Gesprächen wie beim Arzt oder bei Beratungen kann ich mich nicht genügend gut ausdrücken. So ist es immer auch Glückssache, ob ich die richtige Unterstützung erhalte.» Auch an seiner Arbeitsstelle in der Produktion werde es zunehmend schwieriger: «Stille Schaffer werden kaum mehr wahrgenommen. Ich kann mich nicht gut verkaufen und erlebe dadurch immer wieder, wie ich von anderen überholt werde.»
Die Ursache ist komplex
Noch hat Zoé ihre Eltern, die für sie reden können. Das ist aber Segen und Fluch zugleich. Denn selektiver Mutismus kann auch dadurch verstärkt werden, dass andere für die Betroffenen in die Bresche springen. Es ist ein Teufelskreis: Das kleine Kind spricht in der Öffentlichkeit nicht, die Eltern übernehmen wohlmeinend, um die unangenehme Situation aufzulösen. Dem Kind wird aber so unbewusst vermittelt: «Du kannst das nicht, wir machen es für dich.» Die Ursache für ein Auftreten von selektivem oder auch elektivem Mutismus – es werden beide Begriffe verwendet – ist nicht bekannt. Es scheint eine genetische Disposition dafür zu geben, kommt oft mehrfach in der Familie vor. Zoés Grossvater etwa sei in der Schule immer ein «Stiller» gewesen. Ein Trauma in der Kindheit liegt meist nicht vor. Biologische, wie eine Hyperaktivität des Angstzentrums im Gehirn, und psychologische Faktoren führen zur Sprechblockade – meist in einer gegenseitigen Ergänzung. «Mutismus ist behandelbar und die Therapie führt in den meisten Fällen zur Auflösung des mutistischen Verhaltens», sagt die Expertin Schaerer.
Paul Wirth wünscht sich, dass das Schweigen oder der fehlende Blickkontakt nicht als Abweisung, Verweigerung oder fehlendes Interesse gewertet wird. «Manchmal wird das Schweigen sogar als Machtausübung wahrgenommen – aber das ist definitiv nicht der Fall», betont er im Interview, das er lieber schriftlich führen wollte. «Eine mutistische Blockade ist eine Ohnmacht. Als Betroffener kann man da gar nichts kontrollieren.» Aktuell macht Wirth keine mutismusspezifische Therapie, sondern legt den Fokus auf die Begleiterscheinungen: «Die Hoffnung ist da, um mit dem passenden Therapiesetting in eine Aufwärtsspirale zu kommen.»
Dafür setzt sich auch Laura Schaerer bei ihren Klientinnen ein. Denn es gehe um mehr als nur ums Reden: «Die Sprache ist der Zugang zu der Welt und den Menschen, zu unseren Gefühlen, Gedanken und letztlich zu uns selbst.»
*Namen geändert