Die Gantrischkette kurz vor fünf in der Früh. Das schale Licht entblösst Stück für Stück die Silhouette des «Ochsen» und des «Gemsgrat». Der Rücken des Stockhorns ist vom gelben Schimmer umgeben und kündigt einen sonnigen Morgen an. Das ideale Bild einer Gegend, die mit naturnahem Tourismus wirbt. Dann stört ein Geräusch das Idyll. Ein Stein löst sich und donnert von der unteren Flanke der «Alpbigemäre» Richtung «Morgetebach». Für einmal keine Folge des Klimawandels, der zu grossen Wärme und dem damit verbundenen Zerfall der Berge, nein, eine kleine Steinwildkolonie beendet in der Morgendämmerung gerade ihr Frühstück und entschwindet Richtung «Homädli».
Die ersten drei
Das könnten sie sein, der junge Bock und die beiden drei- und siebenjährigen Geissen, die anfangs Mai beim Stockhorn in die Freiheit entlassen wurden. Anfänglich überraschten sie die Tourengänger am «Sunnighorn» bei der «Simmenfluh», nun scheint es sie vermehrt ins Gantrischgebiet zu locken. Vielleicht haben «Gian» und «Giachen» vom köstlichen Gantrischgras geschwärmt. Auf alle Fälle sind die Tiere nicht auf der Flucht oder auf der Suche, viel eher folgen sie einem festen Vorhaben und scheinen das Gebiet bereits gut zu kennen.
Eine ganze Kolonie
Das dürfte den Verein Freunde des Stockhorns begeistern. Zusammen mit der Stockhornbahn, Vertreterinnen und Vertretern der Wald- und Grundeigentümer, der Gemeinde Erlenbach, des lokalen Jagdvereins, des Amtes für Wald und Naturgefahren, des Jagdinspektorats und des Naturschutzes lancierten sie die Idee, im Gebiet für mehr Steinwild und damit mehr Artenvielfalt zu sorgen. Abklärungen des Kantons zeigten, dass sich die Region zwischen Simmental und Gantrisch als Lebensraum eignet. Die Wildhut spricht von einem Potenzial von 100 bis 120 Tieren. Als das Bundesamt für Umwelt (BAFU) seine Bewilligung gab, machten Fangteams in den Gebieten Aletsch-Sonnenberge-Lötschental, Brienzergrat und Schwarzmönch «Jagd» nach jungen Steinböcken und etwas älteren Steingeissen. 30 Tiere sollen in den nächsten 3 Jahren umgesiedelt werden. In einer weiteren Phase sollen Tiere aus Frankreich oder Italien die genetische Basis der neuen Kolonie verbreitern.
Artenvielfalt
Gegen die Wiederansiedlung gingen keine Einsprachen ein. Grosswild ist eben nicht Grossraubtier. Das freut auch Regierungsrat Christoph Ammann, Umweltdirektor des Kantons Bern: «Die Ansiedlung einer Steinwildkolonie im Gebiet Stockhorn erhöht die regionale Artenvielfalt und stärkt die genetische Basis des Steinwilds im Kanton Bern und in der Schweiz.» Aber auch diese Tiere sind vor der Wahrung menschlicher Bedürfnisse nicht gefeit. Die Tiere sollen trotz Tourismus ungestört leben können, so will es der Kanton. Wildruhezonen gaben schon vermehrt Anlass zu Diskussionen. Ein Teil der Bergsteiger, Wanderer und Skitourengänger haben sich gewehrt, weil gewisse Routen tangiert sind. Aktuell seien die Skitouren aber ausserhalb der Wintereinstände meint Jagdinspektor Niklaus Blatter. Dennoch fügt er an: «Die junge Kolonie ist geschützt und bei der Lenkung der Besucherinnen und Besucher werden die Einstände der Tiere berücksichtigt.» Diese Aussage war an das Gebiet des Stockhorns gerichtet. Nun aber gibt es vermehrt Beobachtungen der Tiere im Gantrischgebiet. Das heisst auch jenseits des Simmentals und des Stockhorns muss man sich mit dieser Lenkung auseinandersetzen. Der Kanton Graubünden als Wander- und Skitourenparadies hat aber längst gezeigt, wie ein Miteinander möglich wäre, ohne dass die Wildtiere in Angst und Schrecken versetzt werden und ohne dass der Mensch als Gast in der Natur gänzlich auf seine Bewegung verzichten müsste. «Gian» und «Giachen» müssten der «Stockhorn-Kolonie» vielleicht einfach noch ein paar Tipps mit auf den felsigen Weg geben.
Steinböcke und -geissen gehören in die Alpen. Nachdem sie vor 200 Jahren nahezu ausgerottet waren, grasen heute rund 1200 Tiere auf Berner Boden. Es dürften im Erfolgsfall dieses Projekts bald einige mehr sein. Doch zurück zum «Gemsgrat» und dem «Ochsen». Man stelle sich vor, wenn diese Silhouette zukünftig vermehrt mit den Umrissen eines Steinbocks bereichert würde. Es wäre das Sahnehäubchen auf dem Panorama. Und vielleicht noch ein klein wenig lieblicher als jenes des Wolfs, der den Mond anheult. Grosswild statt Grossraubtier, eine Wiederansiedlung einer Kolonie, die vermutlich nur die Steine im steilen Terrain lostritt und keine politischen.