E ine melancholische Melodie. Langsam aber stetig erobert sie das Ohr, den Kopf, den Körper, das Herz. Die Violinistin hat die Augen geschlossen; ihr Gesicht sendet Sehnsucht in den Raum. Dann werden die Bewegungen des Geigenbogens leichter.
Geschmeidig führt die Hand den Bogen. Das Klavier hält die Melancholie im Raum. Die Instrumente steigern sich in eine vielschichtige Harmonie, bis schliesslich alle Sinnesorgane zu einem einzigen Gefühl verschmelzen: Glück.
Ein Raum
Solche Momente des Glücks entstehen im «Bärenstutz1» mitten in Rüeggisberg. Im ehemaligen Tenn des fast 200-jährigen Hauses entstand ein Begegnungsort für Konzerte und Kleinkunst. Ein Raum, der mit seiner Schlichtheit, mit viel Holz, Glas und ein wenig Metall Platz für Gefühle schafft. Das Tenn sorgt für den Rahmen, in dem das Glück im Verlaufe eines Konzerts heranreifen kann. Was dabei entsteht, ist ein «Moment ohne Vorhang», wie es Erika Akane Schutter zusammenfasst. Innerhalb des Vereins, der diese Veranstaltungen organisiert, engagiert sie die Künstlerinnen und Künstler.
Die Künstlerinnen und Künstler
Ihren hervorragenden Beziehungen ist es zu verdanken, dass Grössen wie der Komponist, Dirigent und Oboist Heinz Holliger oder der Schauspieler Uwe Schönbeck nach Rüeggisberg kommen, um in einem Raum aufzuspielen, der knapp 100 Personen Platz bietet. Diese Nähe und das Ambiente sind nicht nur für das Publikum einzigartig. «Auch die Künstlerinnen und Künstler sind von diesem Raumgefühl angetan», resümiert Erika Akane Schutter die Erfahrungen aus den ersten vier Saisons. Und sie weiss, wovon sie spricht. Sie selbst ist Geigerin und Trägerin mehrerer Preise. Die Musikerin mit japanischen Wurzeln ist mit dem Geigenbauer und Cellist Thiemo Schutter verheiratet. Die junge Familie kennt die Welt und holt sie nach Rüeggisberg. Vier- bis sechsmal im Jahr entstehen im «Bärenstutz1» solche Glücksmomente: im Rahmen von «Bärenstutz Tune» in Form von Konzerten, «Bärenstutz Spot» mit Kleinkunst oder «Bärenstutz Ultra» für das Engagement eines Künstlers mit Weltruf.
Stiftung und Verein
Seit vier Saisons sorgen Mensch und Raum im Bärenstutz für diese Glücksmomente. Bereits die Entstehung war ein Glücksfall. Die Stiftung Olaf Asteson, die in Rüeggisberg Menschen mit einer Beeinträchtigung Lebensraum und Platz in der Gesellschaft bietet, hat im Dorf ein Haus gekauft, um Wohnraum zu schaffen, der näher bei der Gesellschaft ist. Da der Institutionsleiter Hoiko Schutter schon immer dafür sorgte, dass in seinen Räumlichkeiten Kultur seinen festen Platz erhält, lag es auf der Hand, dass auch im Bärenstutz Kulturelles geboten werden soll. Hoiko ist der Schwager von Erika Akane Schutter und hat die Leitung des Olaf-Asteson-Hauses erst vor ein paar Jahren von den Gründern Andreas und Esther Schutter übernommen. Er hat die Verantwortung für diesen Raum nun Erika Akane und Thiemo Schutter übertragen. Die Gemeinde Rüeggisberg unterstützt den daraus entstandenen Verein und die Veranstaltungen. Dank dieser und weiterer Unterstützung innerhalb und ausserhalb des Vereins ist es möglich, dass die Anlässe nur mittels Kollekte stattfinden können. Ein Glücksfall.
Das Glück
Inzwischen ertönt wieder eine Violine. Einsam füllen ihre Klänge den Raum. Sie ist ein Vorbote. Nach und nach treffen die Musikerinnen und Musiker ein, die als klassisches Streichsextett Melodien der Spätromantik hinaus schicken, ergänzt durch Texte des Schauspielers Uwe Schönbeck. «Wir wollen diesen Raum auch nutzen für ungewohnte Begegnungen, quasi als kulturelles Labor», verrät Erika Akane Schutter, ehe sie die Verdunkelung öffnet. Die verglaste Südseite schenkt den für Rüeggisberg so bekannten Weitblick in Richtung Alpen. Und obschon es wenige Stunden vor dem Konzert wieder still geworden ist, keine Klänge auszumachen sind, entsteht Musik. Dieser Blick, dieser Ort und dieses Ambiente sind in der Lage, ein ganzes Orchester im Herzen aufspielen zu lassen. Der Bärenstutz bietet Raum für einzigartige Konzert- und Kunstmomente.
Eine Schmiede des Glücks weitab der grossen Bühnen und Konzerthallen dieser Welt in einer Umgebung, die genauso einzigartig ist wie der magische Ausblick von Rüeggisberg auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Die Violine setzt zum Finale an, die Melodie erobert den Menschen, das Glück nistet sich ein, dann ist Schluss, die Menschen applaudieren, die Musiker verneigen sich. Bis die Tür sich ein paar Monate später wieder öffnen wird, für den nächsten einzigartigen Moment. Zum Glück.