Eisig bläst der Wind über die «Pfyffe». Schneegestöber wirbelt auf. Etwas weiter unten Richtung «Horbüelallmend» dreht ein Reh seine Kruppe gegen diese Kaltfront. Ansonsten bewegt sich das Tier kaum. Es schützt seine Fettreserven und fährt den Stoffwechsel herunter. Nahrung ist kaum vorhanden, die Grashalme liegen unter einer dicken Schneedecke. Plötzlich horcht es auf. Ein dumpfes Stapfen ist zu vernehmen. Lange bleibt das Reh stehen. Wenn es flieht, verliert es wichtige Kraftreserven. Die Geräusche kommen näher, das Fluchttier beschliesst, den windgeschützten Bereich vorsorglich zu verlassen. Weg vom Geräusch, hin Richtung «Horbüelpass». Der Wind ist bissig und die Kälte nagt an den Kraftreserven. Weit kommt das Tier nicht, es kennt das nahegelegene Skigebiet bei «Ottenleuebad». Eine Art Schranke, die es nur ungern überwinden möchte. Es bräuchte zu viel Energie, die für die verbleibenden Winterwochen fehlen würde. Zu spät. Das Reh wird erneut aufgescheucht, diesmal von Menschen, die ihm genau entgegenlaufen. Seine Fluchtwege sind versperrt. Nicht zum ersten Mal in diesen Winter. Erst recht, wenn die Sonne scheint, sind die meisten Plätze zum Aufwärmen bereits von den Menschen besetzt. Also zurück in die kalten, schattigen Gebiete. Überlebt hat es diesen Winter nicht, die Energie reichte nicht aus.
Das Weggebot
«Wildschutzgebiete sind als Rückzugsmöglichkeiten gedacht, um solche Fälle zu vermeiden», erklärt Portmann. Es geht dabei um alle Wildtiere: altbekannte, bedrohte und rückkehrende. «Schneehühner nehmen beispielsweise allein schon die Vibration von Schneeschuhen über mehrere hundert Meter wahr. Jeder Mensch stellt eine Gefahr dar, sein treuer Begleiter, der Hund, nicht weniger», verdeutlicht er, weshalb der Kanton beschlossen hat zu reagieren. Im Gantrischgebiet hat er die «Schüpfenfluh» zu einer solchen Wildschutzzone erklärt. Genauer zwei Teilgebiete, ein östliches und ein westliches. Ganz so neu ist das allerdings gar nicht. Seit den 1992er Jahren ist diese Fläche ein Jagdbanngebiet, seit dem Jahre 2003 wurde es ein regionales Wildschutzgebiet, jedoch nur mit jagdlichen Einschränkungen. Seit letztem Jahr wurde das Gebiet revidiert und neu eingeteilt; es entstand ein kantonales Wildschutzgebiet. Die Skigebiete wie etwa «Eywald», «Ottenleue», «Gurnigel» oder «Wasserscheide» waren stets in dem Gebiet eingeschlossen. Diese wurden nun dem Tourismus zuliebe ausgegliedert. So entstand das Schutzgebiet mit zwei Teilgebieten Ost und West, das Gebiet wurde verkleinert und so dem Druck der Gäste nachgegeben. «In den letzten Jahren hat sich die Situation für die Tiere verändert; die Zahl an Touristen ist stark angestiegen», weiss der Wildhüter. Darauf reagiert nun der Kanton, indem er neu zusätzliche touristische Einschränkungen im Wildschutzgebiet auferlegt. Es gilt ein sogenanntes «Weggebot». Das bedeutet, dass sich die Menschen nur auf den markierten Wegen bewegen dürfen. Schneeschuhlaufen auf den vorgesehenen Pisten, Wandern auf den Wanderwegen, doch schon das Laufen mit Schneeschuhen auf dem Wanderweg widerspricht dem Weggebot, weil Wanderwege keine offiziellen Schneeschuhwege sind. Vom 1. Dezember bis Ende März dürfen nur die freigegebenen Wege begangen werden und für Hunde gilt Leinenpflicht. Vom 1. April bis Ende Juni dürfen nur die bestehenden Strassen und Wege betreten werden. Wintersport und Wandern ausserhalb dieser Strecken ist verboten; gleiches gilt für Veranstaltungen.
Sind Verbote kontraproduktiv?
Das passt vielen nicht. In der Bevölkerung regt sich Widerstand, speziell bei jenen, die gerne auf Skitouren, Schneeschuhwanderungen oder zum Bergsteigen eigene Routen zusammenstellen. «Wildschutzzonen führen zu einer Flut von Verboten, welche die Berggänger und den Tourismus stark einschränken. Das führt zu Unverständnis und Frustration; vermutlich sinkt die Bereitschaft, Verbote einzuhalten. Deshalb sind grossflächige Wildruhezonen kontraproduktiv», entgegnet Rolf Hausamann, ein erfahrener Tourengänger. Wildhüter Portmann sieht im Falle des Gantrischgebiets die Bedürfnisse der Menschen jedoch als gewährleistet und nennt zwei Beispiele: «Es gibt Routen, die man innerhalb dieser beiden Zonen gehen darf, einfach auf den entsprechenden Wegen. Zudem geht das Banngebiet nur bis zum Höhenweg, oberhalb ist man frei und die Skigebiete respektive Loipen bleiben erhalten.»
Freie Touren ausserhalb möglich
Also ein guter Kompromiss für Tier und Mensch? Nicht für alle. Hausamann bringt ein Beispiel, weshalb Tourengänger eingeschränkt bleiben: «Die Wetterverhältnisse ändern sich. Das letzte Jahrzehnt war geprägt von Gleitschnee-Lawinen. Diese entstehen, wenn Schnee auf Boden liegt, der nicht gefroren ist. Früher war das sehr selten; heute ist es die Regel. Damit Schneeschuhlaufen oder Skifahren sicher bleiben, passen die Tourengänger ihre Routen der aktuellen Situation an. Mit dem starren Konstrukt der Wildschutzzone soll das leider verboten werden. Der Routenzwang bringt Berggänger letztlich in unangenehme oder gefährliche Situationen.» Effektiv sind diese Aktivitäten bei der «Schützenfluh» ausgeschlossen. Das sei aber durchaus ein Kompromiss aus Sicht des Wildhüters: «Auf der ganzen Nordseite des Gantrisch haben wir alles freigehalten. Hier kann man sich bis ins Simmental ohne Einschränkungen bewegen», erwidert er.
Aufgescheuchte Tiere
Vermehrt taucht zudem die Frage auf, ob sich denn die Tiere nicht an die Menschen in ihrer Nähe gewöhnen und so eine Koexistenz entstehen kann? «Die meisten Tiere fliehen vor den Menschen, das liegt in ihrer Natur. Zudem benötigen sie sonnige Plätze, um schneller an das Futter unter der Schneedecke zu gelangen oder sich aufzuwärmen. Wenn eine Menschengruppe dort ist, bleiben die Tiere fern», erklärt Portmann. Es gibt im Gantrischgebiet allerdings Sichtungen direkt von der Piste aus. «Das ist kein gutes Zeichen, diese Wildtiere sind dann bereits aufgescheucht, sonst wären sie nicht da», weiss der Wildhüter. Zurück ist das Bild von diesem Reh, das den Winter nicht überlebt.
«Die beiden Teile Ost und West der Wildruhezone «Schüpfenfluh» sind gross, aber es gibt genügend Möglichkeiten, damit die Menschen die Natur geniessen können», fasst Yves Portmann zusammen. Man mag ihm beipflichten, wenn man sich vor Augen führt, dass es wohl eher der Mensch ist, der zu Gast in der Natur ist und nicht die Wildtiere. Dass der eingeschlagene Weg richtig ist, das bezweifelt Rolf Hausamann dennoch: «Rücksichtnahme wird nicht durch Verbote erreicht.» Es stellt sich also diesen Winter die Frage, ob sich die Menschen an dieses «Weggebot» halten? «Ruhe in Frieden» liebes Reh, das den letzten Winter nicht überstanden hat. «Ruhe in Frieden» liebes Reh, wenn du dich diesen Winter in der «Schützenfluh» sonnen kannst, ohne dass dich Menschen stören.