Acht der 12- bis 19-Jährigen wohnen in der Wohngemeinschaft, drei in einer Partnerfamilie in der Gegend. «Manche, die vorher in einer Stadt gelebt haben und das erste Mal hierhin kommen, fallen fast in Ohnmacht», lacht Rolf Küng, Gesamtleiter des Wohn- und Schulheims. Wohnen sie dann aber erstmal in Guggisberg, spiele der Ort keine Rolle mehr, da das Leben in vielerlei Hinsicht einfacher sei. «Hier erübrigt sich die Frage: Soll ich heute am Unterricht teilnehmen oder nicht?», erklärt Küng.
Schwierige Verhältnisse
Die jungen Menschen, die hier zur Schule gehen und auch leben, sind auf eine klare Struktur und Regeln angewiesen. Sie stammen aus Orten der ganzen Deutschschweiz, waren vorher meist mehrfach in verschiedenen Heimen und kommen oft aus prekären und konfliktbehafteten Familien. Dadurch erlebten sie schon einige Abbrüche, kämpfen mit anspruchsvollen Lebenssituationen und leiden oft an psychischen Problemen. «Diese Jugendlichen haben durch ihre Konfrontation mit schwierigen Lebensbedingungen einiges nicht lernen können. Wie verhält man sich in der Gesellschaft? Wie im Unterricht? Das müssen sie sich oft noch aneignen», meint Küng und fügt schmunzelnd an: «Und neben allem sind sie natürlich auch einfach normale Teenager in der Pubertät, die sich mit den gleichen Problemen und Themen auseinandersetzen wie andere in diesem Alter auch.» Dass sie in der «WG Guggisberg» ein sicheres Lebensumfeld und neue Möglichkeiten finden, wenn es keine anderen mehr gibt, zeichne die Institution aus: «Wir sind relativ klein, haben 365 Tage im Jahr offen und bieten interne Schul- und Arbeitsmöglichkeiten. Dadurch sind wir tragfähig», meint Küng.
Grosse Bandbreite
Abhängig davon, wie gut alles funktioniert, bleiben die jungen Erwachsenen zwei bis drei Jahre in Guggisberg. Der Unterricht – oder die Tagesstruktur, wie es Küng formuliert – findet im Rahmen einer besonderen Volksschule des Kantons Bern statt. Was sich dabei vom herkömmlichen Schulalltag unterscheidet, sind verschiedene integrierte Ateliers. «Innerhalb des Unterrichts arbeiten die Schülerinnen und Schüler in der eigenen Handarbeit, Schreinerei, Metallwerkstatt und Hauswirtschaft mit», erklärt Küng das System. Die Schere der verschiedenen Niveaus gehe teilweise weit auseinander, bemerkt der Gesamtleiter: «Einige sind sehr gut, andere können in der 8. Klasse das 1×1 noch nicht. Deshalb arbeiten wir hier lernzielbefreit; somit wird es möglich, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.» Die Mehrheit der Teenager mache ein 10. oder auch 11. Schuljahr, bevor sie dann eine weitere Ausbildung, beispielsweise eine Lehre, absolvieren. Später eine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen sei aber schwierig, oft seien die Jugendlichen weiterhin auf Unterstützung angewiesen, so Küng.
Ein Teil des Dorfes
An einem Ort, wo der Altersdurchschnitt erheblich höher ist als im Heim, fallen die jungen Erwachsenen besonders auf. Für Küng ein Grund mehr, einen guten Kontakt zum Dorf aufrechtzuerhalten. «Klar, man kennt uns hier. Wenn etwas passiert, beispielsweise eine Scheibe eingeschlagen wird, war es in neun von zehn Fällen jemand von uns», bemerkt Küng und wirkt gelassen. Es scheint, dass die jungen Erwachsenen – trotz kleinerer Ausschreitungen – im Dorf gut akzeptiert werden. Ausserdem stellt das Heim mit 22 Angestellten, Partnerfamilien eingeschlossen, einen der grössten Arbeitgeber in Guggisberg dar.
«Es ist klar, dass auch immer wieder Schwierigkeiten auftreten», stellt Küng nach kurzem Überlegen fest. Mit den einzelnen Personen würden sie ein gutes Verhältnis pflegen. Kritischer sei es untereinander, zumal das Zusammenleben mit Gleichaltrigen für viele eine neue Erfahrung sei. Neben der Frage des Miteinanders stelle das Rauchen und der Handykonsum das Hauptproblem dar, fügt Küng an. «Unsere Aufgabe ist es, dabei Regie zu führen und den Jugendlichen den Umgang mit Konflikten beizubringen.» Insgesamt sei die Wohngemeinschaft deshalb in vielerlei Hinsicht lehrreich, ist sich Küng sicher.
Trotz schwierigen Situationen und Konflikten mag die «WG Guggisberg» für viele ein Fels in der Brandung sein. Ein Ort, an dem immer jemand auf einen wartet und an dem man nicht allein ist. Und ganz besonders: ein Ort, an dem man vielleicht eine Chance mehr bekommt als normalerweise; oder wie es Küng beschreibt: «Wenn man halt das 10. Mal einen Fehler macht, bekommt man hier noch eine elfte Chance.»
Nadia Berger