Jede 10. Frau und jeder 16. Mann war 2022 infolge psychischer Probleme in Behandlung, so das Fazit der Schweizerischen Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik. Rund 11’900 Bernerinnen und Berner beziehen aufgrund psychischer Krankheiten aktuell eine IV-Rente. Eine von ihnen ist Heidi Katharina Dietrich. Doch sie ist gleichzeitig eine Anlaufstelle für Menschen, die Hilfe suchen. Sie ist Genesungsbegleiterin EX-IN.
Stimmenhören und Depression
«Seit meiner Jugend war ich schwermütig», erzählt sie. Dennoch schafft sie die Matura und die Zulassung zum Medizinstudium. Doch nach dem ersten Studienjahr muss sie abbrechen; fortan arbeitet sie im kaufmännischen Bereich oder im Verkauf. Während eines Indienaufenthalts hört die 24-Jährige zum ersten Mal Stimmen. Zurück in der Schweiz nimmt Dietrich die Hilfe einer Psychotherapeutin in Anspruch, stellt die Ernährung um und achtet auf eine gesunde Tagesstruktur, in der auch Kampfkunsttraining eine Rolle spielt – mit Erfolg, die Stimmen verschwinden bald. Sie kann wieder arbeiten, auch wenn die depressiven Episoden sie weiter begleiten. Doch zwölf Jahre später bringt ein Nervenzusammenbruch einen Klinikaufenthalt mit sich, die Stimmen kehren zurück. Sie erhält ein Medikament, das sich regulierend auf den Hirnstoffwechsel auswirkt und die Stimmen erfolgreich in Schach hält. Aufgrund der Depressionen und psychotischen Episoden ist eine Tätigkeit im 1. Arbeitsmarkt nicht mehr möglich, sie erhält in den Nullerjahren eine IV-Rente zugesprochen. «Die Psychose-Erfahrung brachte eine eingeschränkte Belastbarkeit mit», erklärt die Belperin. So arbeitet sie Teilzeit im 2. Arbeitsmarkt. Die Frau mit einem grossen sozialen Herz engagiert sich in der Gesellschaft, gibt etwa Nachhilfeunterricht und packt daneben im familiären Umfeld an. «Mein langjähriger, fester Freundeskreis hat sich stabilisierend auf mich ausgewirkt», sagt sie.
Hilfe auf Augenhöhe
Wer heute mit Heidi Katharina Dietrich spricht, kann sich kaum vorstellen, was sie alles durchleben musste. Die 61-Jährige erzählt offen und mit strahlenden Augen. Sie hütet ihren Stiefenkel, sammelt und verarbeitet Kräuter und Blüten – und ist kurz davor, eine Ausbildung abzuschliessen. Genesungsbegleiterin EX-IN darf sie sich in Bälde nennen. «Es ist eine Schulung für Leute mit psychischen Erschütterungserfahrungen», erklärt sie. Genesungsbegleiterinnen und Genesungsbegleiter – «EX-IN» steht für «Experienced Involvement», also «Beteiligung Erfahrener» – sollen als Fachkräfte im psychiatrischen System mit Betroffenen arbeiten und mit ihrem Erfahrungsschatz die Arbeit des medizinischen Personals ergänzen. Im deutschsprachigen Raum ist die Ausbildung seit rund 20 Jahren bekannt, vorher kannte man das Modell seit den 1990er Jahren in den USA, woher der Ausdruck «Peer» kommt. «Der Begriff ‹Peer›, der mit ‹Ebenbürtige› übersetzt werden kann, zeigt, dass es um eine Hilfe auf Augenhöhe geht», so Dietrich. Fachpersonen lernten in der Theorie über Krankheitsbilder, die Peers oder Genesungsbegleitenden hingegen wissen, wie sich eine Depression oder eine psychotische Episode anfühlt. «So ergänzen wir einander und können Brücken bauen.» Es sei ein Wissen aus Erfahrung, für das sich auch Fachpersonen interessierten: «Ich durfte schon Vorträge über meine Krankheits- und Genesungsgeschichte halten.»
Einjährige Ausbildung
Zwölf dreitägige Module, sechs Lerngruppentreffen, drei Intervisionen und zwei Thementage hat die angehende Genesungsbegleiterin bei EX-IN Kanton Bern absolviert, hinzu kamen zwei Praktika in psychiatrischen Kliniken und eine Abschlussarbeit. Kurz vor ihrer Zertifizierung arbeitet sie bereits Teilzeit an den Recovery Colleges Bern und Zürich. Dort bietet sie mit einer Psychotherapeutin zusammen einen Kurs rund ums Thema «Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge» an – für Betroffene, Fachpersonen, Angehörige und weitere Interessierte. Seit Anfang Jahr ist sie auch als Recovery Coach tätig, begleitet eine Betroffene mit Depressionen und schaut mit ihr, was für sie hilfreich sein könnte. Hier hilft Dietrich eine bereits absolvierte Coaching-Ausbildung und das Kursleitungsjahr in der Erwachsenenbildung. «Nun suche ich noch nach einer Teilzeitstelle in einer psychiatrischen Klinik.»
Wegbegleitung versus Therapie
Doch wie sieht die Arbeit mit Menschen in einer akuten Krise eigentlich aus? «Es sind vor allem Einzelgespräche», erklärt sie. «Wir tauschen Erfahrungen aus und generieren so Wir-Wissen.» Eine Person mit Depression sage zum Beispiel, sie leide gerade unter einer Antriebsschwäche. «Dann antworte ich, gell, du möchtest ganz viel tun, aber du sitzt wie erstarrt da und kannst nichts machen. Und die Person sagt, ja, genau so ist es. Man findet sich, man versteht sich.» Im Gegensatz zu einer Fachperson bieten Genesungsbegleitende EX-IN keine Therapie an. Sie seien vielmehr Wegbegleitende. «Ich rede mit ihnen, ich hole sie ab. Und hauptsächlich höre ich viel zu.» Denn gerade in einer akuten Krise seien Betroffene meist sehr einsam. Fachpersonen hätten oft nicht die Zeit, um immer wieder zuzuhören oder mit einem Patienten im Gang ein paar Schritte zu gehen. Durch die Ausbildung verfügten die Peers über Wissen zu Krankheitsbildern und mögliche Strategien, um damit umzugehen. Sie kennen Modelle, die sie mit den Betroffenen zusammen erkunden.
Glaube als Resilienzstrategie
Und Heidi Katharina Dietrich selbst? Ist sie nach Jahrzehnten mit Depressionen und nach mehreren Episoden mit Psychose-Erfahrungen wieder gesund? Sie überlegt lange. «Ich würde vorsichtigerweise und aufgrund meiner Erfahrungen sagen, dass ich nie ganz geheilt bin. Niemand ist vor einem Rückfall sicher. Ich habe aber im Laufe der Jahre Wege gefunden, um damit umzugehen, und wende diese täglich an.» Als einen der Hauptgründe, weshalb sie seit drei Jahren keine schwere Depression mehr hatte, sieht sie ihren Glauben an Gott. «Der Glaube begleitet mich seit meiner Kindheit. Ich war lange auf der Suche, praktizierte Yoga, befasste mich mit Buddhismus und Taoismus. 2019 kam ich über eine Freundin zum christlichen Glauben.» Mehrmals hat Dietrich eine Art göttliche Intervention erlebt, als sie aus dem Leben scheiden wollte. «Gott ist meine stärkste Resilienzstrategie. Er ist die stärkste Kraft, die es gibt. Gott ist Liebe und das Fundament, das uns alle trägt.» Von anderen spirituellen Lehrern habe sie auf wichtige Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens nie eine Antwort erhalten. «Jesus hingegen hat mir klare Antworten gegeben.» Die letzte starke Depression erfuhr Dietrich im Herbst 2021, als wegen Corona die meisten sozialen Kontakte wegfielen. «An einem totalen Tiefpunkt erlebte ich, wie eine Kraft durch mich atmete. Das war Ruach, der Atem oder der Geist Gottes», erzählt sie. «Ich weinte nur noch, denn mir wurde klar: Gott lebt in mir und er will, dass ich lebe. Ich spürte und wusste: Ich bleibe immer seine geliebte Tochter.» Seit diesem Erlebnis sei der Wunsch, sich etwas anzutun, wie weggeblasen – etwas, das sie vorher noch nie erlebt hatte. «Das war das prägendste Erlebnis meines Lebens.»
Seit dem Sommer 2021 hat Dietrich bereits zwei Bücher geschrieben. «Die Schöpferkraft in dir» zeigt anhand einer frei erfundenen Geschichte Wege auf, um aus der Krise zu kommen. Das zweite, «14 Wege aus Depressionen in die Lebensfreude und Lebenskraft», ist aktuell noch im Lektorat. «Und das dritte wird meine Autobiografie», verrät die Autorin strahlend. «Das Buch soll meinen Weg in ein sinnerfülltes Leben zeigen. Es soll Hoffnung schenken. Denn es gibt Wege aus der Depression und dem Stimmenhören hinaus sowie Möglichkeiten, damit umzugehen.»