«Ich möchte nicht gerade bei Adam und Eva anfangen, aber ich muss dennoch ein wenig ausholen», eröffnet Christoph Jungen das Gespräch. Der studierte Theologe und Pfarrer sitzt auf dem Sofa in seiner Wohnung. Hinter ihm prangt ein arabisches Zeichen an der Wand, dessen Bedeutung er später im Gespräch noch erläutern wird.
Aufgewachsen in einer gemischt religiösen Familie, die landeskirchlich und freikirchlich geprägt war, wurden Jungen die biblischen Geschichten durch seine Eltern von klein auf nahegebracht. Israel, Hauptschauplatz der Erzählungen, nahm für ihn lange die Rolle eines «Märchenlandes» ein. Nach dem Gymnasium zog es den neugierigen Jugendlichen zum Theologiestudium. Seine Sympathie für das bedrängte Volk und den Staat Israel wurde bestärkt, insbesondere durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Schrecken des Holocaust. Den Palästinensern und Arabern hingegen stand er distanziert gegenüber. Sein Bild über das «heilige Land» erhielt 1967 das erste Mal Risse, als die Nachrichten über den Sechstagekrieg im Nahen Osten berichteten.
Auf der Suche nach Antworten
«In den frühen 1980er-Jahren änderte sich meine einseitige Wahrnehmung auf die Region und ihre Menschen entscheidend, als ich das erste Mal nach Israel reiste, um die historischen Schauplätze biblischer Erzählungen zu besuchen», erinnert sich Jungen. In Bethlehem suchte der wissbegierige Berner trotz der Warnungen seines Reiseleiters den Kontakt zu Palästinensern. «Der Reiseleiter sagte, ich solle mich von diesen Terroristen fernhalten.» Doch der junge Mann liess sich nicht beirren, denn seine Neugier auf Antworten war grösser als seine Angst. In einem kleinen Café abseits der Touristenströme kam er ins Gespräch mit Palästinensern. «Ich war überrascht von der grossen Herzlichkeit, die mir entgegengebracht wurde», sagt er. Jungen stellte Fragen und hörte zu. «In diesem Moment wurde mir bewusst: Aha, es gibt mehr als eine Sichtweise auf den Konflikt.»
Diese Reise sollte nicht die letzte bleiben. Jungen kehrte insgesamt 25-mal in die Region zurück, allein oder in Gruppen. «Die Frage, warum der Konflikt in Israel so tief verwurzelt ist und wie man ihn aus verschiedenen Perspektiven verstehen kann, liess mich nicht mehr los.» Jungen besuchte Orte auf beiden Seiten der Grenze, sprach mit den unterschiedlichsten Menschen, darunter auch selbstkritische Stimmen. «Mich interessierten besonders die Menschen, die nach einer konstruktiven und gewaltfreien Lösung suchten.» Ein Erlebnis, das ihn besonders prägte, liegt 18 Jahre zurück: «Damals organisierten wir mit einer lokalen Organisation, die sich für die Jugendlichen in der Region einsetzt, einen Austausch in die Schweiz. 20 palästinensische Jugendliche, christliche und muslimische, im Alter von 14 bis 18 Jahren, verbrachten zwei Wochen bei Gastfamilien im Gürbetal. Diese Begegnungen führten zu engen Freundschaften, die bis heute bestehen. Ich habe sogar einen 10-Jährigen Göttibuben in Bethlehem.»
«Gewalt ist nie gerechtfertigt»
Neben seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt hat sich Jungen auch in der Schweiz immer wieder gegen jede Form von Rassismus und insbesondere gegen Antisemitismus engagiert. Seit vielen Jahren ist er Vorstandsmitglied der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Schweiz (CJA) und engagierte sich in der protestantisch-jüdischen Gesprächskommission (EJGK) der Evangelisch-reformierten Kirche. Jungen weiss aus langjähriger Erfahrung, dass der Dialog besonders schwierig wird, wenn es um die Staatsgründung Israels geht.
«Nach dem zweiten Weltkrieg fand das jüdische Volk mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft eine Heimat und gründete 1948 den Staat Israel. Doch den Preis für ihr Glück, eine Heimat gefunden zu haben, zahlte die lokale arabisch palästinensische Bevölkerung», erklärt Jungen und fährt fort: «Während und nach der Gründung Israels wurden hunderttausende Palästinenser gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Viele suchten Zuflucht in Nachbarländern, ein erheblicher Teil floh in den Gaza-Streifen. Der Sechstagekrieg 1967 brachte erneut tiefgreifende territoriale Veränderungen mit sich. Palästinenser, die im Westjordanland und in Gaza lebten, gerieten nun unter militärische Kontrolle des israelischen Staates. Das Leben in diesen Gebieten ist seitdem geprägt von der israelischen Besatzung, die zu weiteren Spannungen und Konflikten führte. Radikale Stimmen auf palästinensischer Seite fordern, dass Israel vollständig verschwinden möge, während vernünftige Stimmen anerkennen, dass Israel bleiben wird. Sie verlangen jedoch das gleiche Recht für alle und die Aussicht auf einen eigenen Staat. Eine Freundin sagte mir einmal, ihr sei egal, wie dieser Staat heissen solle. Das Einzige, was sie sich wünsche, sei eine Zukunft und Perspektive für ihre Kinder.» Auch in Israel gebe es sehr wohl liberale Stimmen, die nach einer gerechten und friedlichen Lösung für alle fordern. Doch viele verstummen, aus eigener Ohnmacht oder Angst vor den Radikalen in den jeweils eigenen Reihen.
Nichts rechtfertige in irgendeiner Weise die grausame Gewalt – auf beiden Seiten, sagt Jungen vehement. «Mich ärgert die militante Instrumentalisierung der Religion dermassen. Aus meiner Sicht kann Religion ambivalent sein. Sie kann sowohl Frieden und Gerechtigkeit fördern als auch Gewalt schüren. Es kommt darauf an, an welchen Fäden man zieht. Leider herrscht in unserer Gesellschaft, nicht unverständlicherweise, ein weitverbreitetes Bild, dass überall dort, wo die Religion ins Spiel kommt, es gewalttätig wird. Dabei haben eigentlich alle Religionen in ihrem Ursprung die gleichen Wurzeln und könnten gemeinsam einen grossen Beitrag zum Frieden leisten.»
Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit
Oft stehe Jungen an einem Punkt, an dem er die Hoffnung fast verloren habe. «Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und frage mich, was ich noch tun könnte», sagt er mit trauriger Miene. Der Hass und die Gewalt auf beiden Seiten scheinen sich immer weiter in einer Spirale zu drehen. «Ehrlich gesagt, ich habe keine Hoffnung auf einen absehbaren Frieden», gesteht er. Er blickt auf das arabische Zeichen an der Wand, deutet darauf und erklärt: «Es bedeutet Friede und Liebe.» Für Jungen ist es entscheidend, beide Seiten des Konflikts zu verstehen, um eine umfassendere Perspektive zu gewinnen. Die vielen Reisen nach Jerusalem haben ihn dazu gebracht, die historische und politische Situation zu hinterfragen und auch seine eigenen Überzeugungen und Vorurteile zu reflektieren. Trotz der Ohnmacht und Hilflosigkeit bleibt Jungen ein Befürworter des Dialogs. «Der Weg zu einer Lösung liegt im Gespräch, im Zuhören und im Mut, den anderen zu verstehen.»
Info:
«(K)ein religiöser Konflikt? Israel, Palästina und
kein Ende – welche Rolle spielt die Religion?
Vortrag und Diskussion mit Pfr. Christoph Jungen. Mittwoch, 29. Januar, 19.30 Uhr, Kirchgemeindehaus Kirchenthurnen