Rückblende: Vor einem halben Jahr veranstalteten die Gemeinde Riggisberg, der Kanton Bern und die Betreiberin der Kollektivunterkunft, das Schweizerische Rote Kreuz, gemeinsam eine Informationsveranstaltung. Die Bedenken damals lauteten: So abgelegen, wie die Geflohenen untergebracht werden, sei es kaum möglich Integration zu betreiben. Ein halbes Jahr später stellt sich die Frage: Wie gut funktioniert inzwischen das Zusammenleben mitten im Naturpark?
Beruhigende Wirkung
«Die Umgebung mag abgelegen sein, aber sie hilft, um Ruhe zu finden. Man ist weit weg von den Konflikten.» Die Aussage der Leiterin Valentyna Pichler steht fast im Gegensatz zu den Befürchtungen von damals. Doch die gebürtige Ukrainerin muss es wissen. Seit dem 1. Juni hat sie die Verantwortung im Gurnigelbad übernommen, nachdem sie schon zuvor in Prêles in einer Kollektivunterkunft des SRK tätig war. Ein Energiebündel mit klaren Ansagen und einem Lachen, das Herz und Tür öffnen kann. Als ehemals Geflohene weiss sie, dass viele Bewohnende einen beschwerlichen Weg bis hierher hatten; und nun darauf hoffen, eine Aufnahme zu erhalten. «Die meisten Menschen, die hier ankommen, sind traumatisiert», findet sie die Worte, welche die Szene mit dem kleinen Jungen am Eingang unterstreichen. Doch zurück zur lieblichen Gegend, in deren Mitte nun rund 100 Menschen leben. «Als ich ausstieg, war ich überwältigt von der Schönheit der Natur hier», sagt Anastasia, eine junge Mutter aus Georgien. «Wenn ich Geld hätte, würde ich dafür bezahlen, es ist so schön hier. Wenn es mal zu viel Trubel im Haus hat, kann ich einfach raus in die Natur gehen», sagt Shérif aus Usbekistan. Er scheint so etwas wie die gute Seele des Hauses zu sein. Wie ein Gastwirt schlendert er durch die Gaststube und hat ein offenes Ohr für seine Mitbewohner, wo auch immer sie herkommen.
Das zweite Wunder von Riggisberg
Natürlich finden sich auch jene, die etwas konsterniert wirken. Levent zum Beispiel: «Ich komme aus einer Stadt; das hier ist schon etwas ganz anderes», umschreibt er durchaus diplomatisch. Pichler versteht beide Sichtweisen. «Die Lage mag nicht für alle Belange optimal sein, aber wir machen das Beste daraus.» Ein Blick auf ihr Team von insgesamt fünf Personen lässt schon nach wenigen Minuten keinen Zweifel daran. Die meisten sind selbst Zugewanderte und wissen genau, worauf sie zu achten haben. Dennoch werden die Landessprachen nur als Hilfe genutzt, primär wird deutsch gesprochen, auch im Alltag, immer wieder. «Ich möchte bald das B1 in Deutsch machen», bestätigt Levant, lächelt und ergänzt, «aber es braucht wohl noch ein wenig.» Nur was er sagt, ist so lupenrein wie das Wasser, das den Gantrisch hinabläuft. Auch Shérif und Anastasia artikulieren sich erstaunlich behände durch die Fragen. Das ist allerdings nicht nur dem SRK zu verdanken. 2015 ging Riggisberg als Wunder in
die nationale Asylpolitik ein. Ein Beispiel, wie man Geflohene annimmt, aufnimmt und letztendlich integriert. Pfarrer Daniel Winkler war damals massgeblich daran beteiligt. Nun verweist der Asylexperte auf zwei Frauen: Denise Heisen und Marianne Windler. Anastasia ist gerade dabei zu erzählen, wie es ihren Kindern ergeht, da erhellen sich plötzlich sämtliche Mienen in der Gaststube. Es ist fast wie im Theater: Auftritt Denise. Sie umarmt die Menschen, erkundigt sich bei Pichler und scheint zum Inventar zu gehören wie die altehrwürdigen Stühle und Tische. «Die Freiwilligen aus Riggisberg; so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Über 30 Personen helfen mit, das ist nicht nur erstaunlich, sondern darüber hinaus dank dieser beiden Frauen noch bestens organisiert», schwärmt Pichler.
Macht das Gemeindepräsident Michael Bürki stolz? «Ja klar freut mich das, ich schätze das sehr. Es ist mir aber auch ein Anliegen, das Team des SRK zu loben, sie machen einen tollen Job», unterstreicht er. Auch die Gemeinde Riggisberg selbst engagiert sich nach Kräften. Insbesondere veranstaltet sie einen regelmässigen runden Tisch mit allen Beteiligten. «Das hat sich bisher wirklich ausbezahlt», fasst Bürki zusammen.
Lernwillige Menschen
Inzwischen hat Shérif das Eis gebrochen. Zum Interview möchten nun einige. Nicht um zu klagen, noch weniger, um zu erzählen, was sie in ihrem Leben erlitten haben und schon gar nicht über die gefährliche Flucht. Nein, diese Menschen möchten arbeiten. «Mein Ziel ist es, dort zu arbeiten, wo es in der Schweiz Fachkräftemangel gibt. In der Pflege zum Beispiel», sagt Anastasia ohne Umschweife. «Ich war in der Sicherheitsbranche tätig, es wäre schön wieder in diesem Bereich etwas zu finden», meint Levent. Der ruhige Mann hat sogar studiert und hofft nun, dass seine Ausbildung hilfreich sein kann. «Ich will einfach das zurückgeben, was die Schweiz mir alles gegeben hat», so Shérif. Das SRK weiss, dass diese Menschen nur dann eine Chance haben, wenn sie die schweizerische Lebensart kennen und wenn sie gut Deutsch sprechen. Darauf wird im Gurnigelbad viel Wert gelegt. «Wir beginnen jede Kommunikation immer auf Deutsch. Danach schauen wir, wie weit wir kommen, ehe wir erstmal ins Englische wechseln», betont Pichler. Ihr Team spricht zudem Türkisch, Russisch und Arabisch, «und wenn das nicht reicht, gibt es immer noch Handy-Übersetzungen», so die Leiterin.
Geflohene oder Wartende
Die Arbeit ist das Ziel, Deutsch das Ticket aus dem Gurnigelbad. «Wir haben ein ziemlich durchgetaktetes Leben mit Regeln und Pflichten», verrät Pichler und verweist auf die Öffnungszeiten der «Réception», um Anliegen zu deponieren. Dazwischen gibt es Schulunterricht, medizinische und psychologische Hilfe sowie viele Angebote für individuelle Möglichkeiten, die nur dank den Freiwilligen bestehen. Zudem gibt es vier Zusatzfahrten mit dem Bus. In der ehemaligen Bar entsteht eine Kleidertauschbörse, Velos stehen zur Verfügung und die Bewohnenden selbst haben einen Garten angelegt, in dem gerade Trauben heranreifen. Gibt es bald den ersten Gurnigelwein? Shérif lacht und meint: «Die werden wohl vorher schon gegessen.» Nun zeigt er den Hoteltrakt, in dem die Familien leben, den ehemaligen Militärtrakt, in dem die Männer wohnen. Spartanisch ist es, aber beklagen tut er sich nicht. Auch der junge Mann nicht, der in der Küche gerade Brot backt. Nicht für sich, sondern für alle. Die Führung macht klar: Hier oben kommen die Geflohenen nicht nur zur Ruhe, sie bilden auch eine Gemeinschaft und helfen einander, allen voran Shérif. Das alles verdrängt die Ungewissheit. Wer kann bleiben, wie geht es weiter? Geflohene sind in erster Linie einmal Wartende mit ungewisser Zukunft.
Vier Jahre plus ein Jahr optionale Verlängerung; so lange soll das Gurnigelbad den Geflohenen zur Verfügung stehen. Danach sollen die Ziele der Vermieter Bernapark AG weiterverfolgt werden. «Es ist ja eine Tourismuszone und die soll entwickelt werden», sagt Bürki. Doch bis es soweit ist, werden noch viele Menschen im Gurnigelbad landen. 196 Plätze hat das Haus «und die Zahl der Ankömmlinge nimmt stetig zu», verrät Pichler. Eine Woche Vorlauf hat das Team, um alles für die Neuankömmlinge vorzubereiten. Die genügsame Leiterin meint: «Das reicht uns aus, wenn nicht gerade noch Schäden am Haus passieren.» Die alten Leitungen fordern ab und an ihren Tribut, Geräte gehen kaputt, Türen klemmen, das SRK und seine Bewohnenden müssen oft selbst Hand anlegen, denn Hilfe kommt nicht immer sofort. Das Wunder von Riggisberg scheint sich erneut zu wiederholen. Dank der Bevölkerung, dem Gemeinderat, dem SRK-Team mit einer emsigen Valentyna Pichler an der Spitze, doch vor allen Dingen dank den Geflohenen selbst. Nach einer gefährlichen Flucht landen sie mitten im Nirgendwo, ohne zu wissen, wohin ihre Zukunft führt. Die Ungewissheit, sie steht auch dem kleinen Jungen ins Gesicht geschrieben. Inzwischen steht er draussen und blickt wie versteinert auf das Guggershörnli. Shérif sieht das, steht neben an und schaut schweigend mit ihm auf den kleinen Berg. Zwei unterschiedliche Menschen, die einen Gedanken teilen: die Ungewissheit. …und täglich grüsst das Guggershörnli.
Sie wollen helfen?
Bald ist Winter und der Kleidertauschladen braucht noch einige wärmende Sachen. Zudem sollen einige Sportangebote entstehen. Fitnessgeräte zum Beispiel sind auf der Wunschliste des SRK weit oben. Wer mithelfen will, meldet sich unter 031 537 26 85 oder ku-riggisberg@srk-bern.ch
Jobprofile
Der Besuch des Gurnigelbads verrät, dass die Menschen hier Arbeit suchen. Die drei Geflohenen, die mit der Gantrisch Zeitung gesprochen haben, durften ein kleines Jobprofil erstellen:
Der ruhige und besonnene Levent:
Ich komme aus der Sicherheitsbranche. Davon verstehe ich etwas und das motiviert mich. Ich kann mir aber auch etwas im kulturellen oder sozialen Bereich vorstellen, meint er mit Blick auf sein abgeschlossenes Studium in diesem Bereich.
Die motivierte Mutter Anastasia:
Mein Wunsch ist es dort zu arbeiten, wo es an Personal fehlt. In der Pflege zum Beispiel. Mein Traum wäre, eine Lehre oder Ausbildung zu machen. Der Lohn sei nicht so wichtig, Hauptsache sie könne etwas zurückgeben.
Der väterliche Shérif:
Kaum etwas, was er mit einer Dose WD40 nicht hinbekommen würde. Der freundliche Mann ist ein Recycling-Experte und hat in diesem Bereich gearbeitet. Entsorgungshöfe aufgepasst: Shérif liebt diese Branche, kann sich aber auch sonst viele handwerkliche Einsätze vorstellen.
Schlussbemerkung
Aus Rücksicht auf die Bewohnenden sind jene Erzählungen von Flucht oder Verfolgung in den jeweiligen Ländern nicht Bestandteil des Textes. Aus Personenschutz sind die Interviewten zudem nur mit Vornamen und Landesherkunft beschrieben. Ohne Familienname und Herkunftsort. Aus denselben Gründen erscheinen sie auch nicht auf Bildern. Die Redaktion der Gantrisch Zeitung dankt für Ihr Verständnis.