Kaum jemand vermag das, was eine Wettertanne ist, besser zu beschreiben, als es Emil Schibli vermochte. Als Bub verdingt, kämpfte er sich selbst durchs Leben und schrieb sich in die Seele vieler Menschen, um als Dichter und Schriftsteller seine Berufung zu finden. Ein starker Mann, stark wie eine Wettertanne. Vielleicht beschreiben seine Worte gerade deshalb so wunderbar das magische Wesen dieser sonderbaren Bäume.
Einzelgänger
Eigentlich wäre es ganz einfach. Eine Wettertanne ist per Definition eine einsam stehende Tanne, gepflanzt, um Mensch und Tier Schutz zu bieten. Je länger sie Blitz und Starkwind trotzen, desto zerzauster stehen diese Fichten oder Weisstannen vor einem. Ihre Erscheinung verleiht ihnen etwas Mystisches. Erblickt man ihre Wunden der Zeit, malt dieser Anblick Bilder vergangener Gefahren. Muhend suchen Kühe Schutz vor Blitz und Donner. Keuchend rettet sich der Reisende unter ihre ausgebreiteten Nadelarme. Ängstlich äugt die Rehmutter hinter dem Stamm hervor, bevor sie ihr Kitz das erste Mal auf das Grasland führt. Der Stamm ist ein magischer Spiegel. Seine Wunden sind jene von Tier und Mensch. Wer ihn wahrnimmt, der sieht in die Vergangenheit, der verbindet sich mit all jenen schutzsuchenden Wesen, die diesem mächtigen Baum mitunter sogar ihr Leben verdanken. Dennoch fristet die Wettertanne weiterhin ihr karges und einsames Dasein. Kein Gärtner gibt ihr Wasser, wenn die sengende Hitze sie zu verdorren droht. Kein Fels bricht die Windböen, die schonungslos an ihrem Astdach zerren. Keine Lawinenverbauung hat je eine Wettertanne vor den Schneemassen retten wollen.
Vorbilder
Also wird es Zeit, all unseren Wettertannen im Gantrischgebiet zu huldigen. Nicht, indem wir sie umarmen, sie unter Schutz stellen oder gar Kolleginnen und Kollegen hinpflanzen. Nein, indem wir in den magischen Spiegel ihres Wesens blicken. Indem wir für einen Moment die Kraft dieser Bäume spüren und in uns aufsaugen. Indem wir daraus jene Kraft schöpfen, die auch uns durch harrsche Momente und widrige Schicksale trägt. Die Wettertanne lebt, weil sie das will, während nebenan schon manch Blume das Köpflein Richtung Boden senkt. Ein Vorbild der Willenskraft, der Bereitschaft, zu leben. Und wenn man jemanden sagen hört, er sei schon ein wenig «es Blüemli», dann nickt die Wettertanne mit ihren Ästen und gibt dieser Aussage recht. Ihre Narben zeugen davon.
«Wer braucht schon Tattoos, wenn Narben von echten Erlebnissen berichten», sagte einst ein nordamerikanischer Medizinmann zu einem zerzausten Baum, der sich mit all seiner Kraft gegen den ihn umgebenden Städtebau zur Wehr setzte, bis er schliesslich von den Baggern umgefahren wurde und heute einem ganzen Stadtteil den Namen gibt. Das einsame Dasein solcher Bäume, ist es wirklich so vorbildlich und erstrebenswert? Die Antwort wurzelt in einer falschen Annahme. Einsam ist die Wettertanne noch lange nicht, nur weil sie alleine dem Wetter trotzen muss. Sie ist umgeben von Gräsern, Vögeln auf ihren
Ästen, Wolken an ihren Wipfeln und Käfern an ihren Wurzeln. Die Wettertanne ist ein trotziger Einzelgänger, aber deswegen noch lange nicht einsam. Das unterscheidet sie von uns Menschen. Wir, die wir mit dem Bildschirm vor Augen mehr Flucht betreiben als ein ängstliches Reh, verwehren uns der Wirklichkeit. Der einzelne Wanderer, er würde nie von sich behaupten, dass er sich unterwegs einsam fühlt. Der Hirte, der Senn, man stecke sie in das umtriebige städtische Leben und schnell würden sie zu Fluchttieren. Ihr ganzer Körper schreit nach Rückkehr in die Einkehr. Ja, die Wettertanne ist auch als Einzelgängerin ein Vorbild, weil sie eben nicht einsam ist, sondern sich mit der Umgebung verbindet.
Ein Wald voller Wettertannen
Vielleicht haben Sie selbst beim Lesen dieser Zeilen bereits ein solch zerzaustes Baumwesen vor Ihren Augen, so als stünden Sie gerade davor. Vielleicht kennen Sie schon das eine oder andere Geschöpf, das in Ihrer unmittelbaren Umgebung ab und an Ihren Weg säumt. Vielleicht haben Sie selbst unter dem Nadeldach einer solchen Wettertanne schon mal den schützenden Schatten gesucht. Ja, Wettertannen stehen mitten unter uns, weit verteilt im ganzen Gantrischgebiet. Knorrige, struppige, zerzauste, mächtige und besonders alte. Machen Sie sich auf zu diesen Wunderbäumen. Blicken Sie in deren Spiegel im Stamm und nehmen Sie diese Lebenskraft in sich auf. All der Lebenswille dieser Tannen wird dann sinnstiftend, wenn er anderes Leben schützt und bestärkt. So verbreitet die Wettertanne als einziger Baum weit und breit ihren Samen nicht durch Tannenzapfen oder fliegende Blütenstände, sondern durch all jene Wesen, die wertschätzen, wofür diese Bäume stehen.
Eine unter vielen
Um diesen Wettertannen der Gegend keine urbane, verdichtete Menschenmenge zu bescheren, die sie besuchen geht, möge man dem Autor verzeihen, dass hier keine Aufzählung der besonders schönen Exemplare folgt. Sie wäre ohnehin falsch. Ob gross, klein, besonders exponiert oder unweit eines Dorfes, jede Wettertanne trägt ihre ganz eigene Schönheit in sich. Und nicht bei jedem Augenpaar, das seinen Blick auf sie wirft, entblösst sich gleich deren Schönheit. Genau deshalb malen und beschreiben viele Kunstschaffende manches dieser Exemplare. Getränkt vom Gefühl, als sich die Schönheit dieser verwitterten Bäume ihnen kurz offenbarte. So singen vielleicht diese Zeilen eine etwas literarischere Melodie, als es ein rein journalistischer Text kann. Denn auch der Autor dieser Zeilen kennt eine dieser Wettertannen. Er hat sie anfänglich verflucht und sie innerlich gefällt. Ihr Anblick störte erst das malerische Bild einer ganzen Umgebung. Es hat gedauert, ehe er den Spiegel ihres Stamms erkannt hat, ehe er ihr aufopferungsvolles Dasein verstanden hat, ehe er vielleicht nur ansatzweise verstehen konnte, wie oft sie wohl schon Schutz und Trost für Mensch und Tier gespendet hat. Und wenn der Tag eine besondere Hürde bringt, dann steht sie da, diese mächtige und alte Tanne. Stur und stoisch. Verwittert von unzähligen widrigen Umständen, und dennoch scheint sie Jahr für Jahr nur noch stärker zu werden. Was mag im Vergleich zu diesem Baum mein Bürdlein schon wiegen? Mit der Kraft der Wettertanne im Herzen stelle ich mich der Hürde. Überwinde ich das Problem, gehe ich gestärkt daraus hervor. Bleibe ich daran hängen, heile ich die Wunden und nehme einen weiteren Anlauf.
Oberflächlich ist schnell gesagt, was eine Wettertanne ist. Doch was darin wurzelt, ist ein Geflecht zwischen Mensch und Natur. Die Lebenskraft, der Überlebenswille und die Bereitschaft, hinzunehmen, was nicht verhindert werden kann. Ehren wir das edle Blätterdach einer Linde, bejubeln wir das wuchtige Eichenholz und lobpreisen wir die fruchtgebenden Kernobstbäume, so vergessen wir nur allzu oft die fast magisch anmutende Kraft der Wettertannen. Deshalb gehört dir, du wunderbare Wettertanne, der edle, dichterische Schluss dieser Zeilen: Ein Tännlein warst du nur, wie vergessen zwischen kargem Fels und Wiesengrund. Wuchsest heran ohne Klag vor Frost und schüttelndem Wind. Mit aller Kraft hast du dein Wurzelwerk im Boden verhakt, bis der Wind von dannen zog. Erst waren es kleine Vöglein nur, die bei dir Zuflucht fanden. Jahr für Jahr reckst du deinen Wipfel etwas höher empor. Bis sie alle unter deinem Nadeldach Schutz finden. Mensch und Tier. Sie verbünden sich mit dir. Kein Werk dieser Welt vermag jemals zu bemalen, besingen oder beschreiben, von welch magischer Anmut du sein magst. Zeit heilt Wunden, aber die Narben warnen das, was kommt, vor dem, was war. Das, liebe Wettertanne, nennt man Lebenskraft. Und die hast du, so dass dir diese Ode an dein geschundenes Wesen gebührt.