Ein düsteres Kapitel

Ein düsteres Kapitel

Bauernhof, Kinderheim, Pflegeeltern oder Psychiatrien: Tausende Schweizerinnen und Schweizer sind bis heute geprägt von ihrer Kindheit und Jugend als Verdingkinder, Fremdplatzierte oder Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. In verschiedenen Berner Gemeinden, darunter auch viele aus der Region Gantrisch, soll ihnen nun gedenkt werden.

Zwischen 2013 bis heute forderten im Kanton Bern 2200 Betroffene beim Staatsarchiv eine Zusammenstellung ihrer Akten. Zehntausende Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Verdingungen sind bereits verstorben. Genaue Zahlen sind schwierig zu rekonstruieren. Doch dass der Kanton Bern stark tangiert war, bestätigt auch ein Blick auf die Anträge auf einen Solidaritätsbeitrag, den Betroffene im Rahmen des Bundesgesetzes über die «Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahen und Fremdplatzierungen vor 1981» gestellt haben. Schweizweit bekamen 10’000 Betroffene 25’000 Franken, ungefähr ein Fünftel dieser Personen stammen aus dem Kanton Bern, etliche aus dem Verteilgebiet dieser Zeitung.

Aufarbeiten 

«Auch das Gürbetal war betroffen von Fremdplatzierungen und Verdingungen. Einiges ist bekannt, anderes müsste noch aufgearbeitet werden», meint Susanne Jost, Kuratorin des Ortsmuseums Belp. Man wisse unter anderem von der Geschichte eines Mädchens, Rosina Hänni, das in Belp verdingt war. «Dem Mädchen ging es sehr schlecht bei seiner neuen Familie. Immer wieder bat sie darum, den Platz zu wechseln», weiss Jost. Als ihr niemand Beachtung schenkte und man sie als undankbar bezeichnete, legte Rosina aus Verzweiflung ein Feuer. Und löste im Mai 1879 den wohl grössten Dorfbrand der Belper Geschichte aus. «Der Chefigturm und viele Häuser fingen dabei Feuer, 14 Familien wurden obdachlos. Rosina wurde als Konsequenz in eine Besserungsanstalt eingewiesen», erklärt Jost das erneute Schicksal des Mädchens.

Im Gantrischgebiet war das Verdingwesen auf Bauernhöfen üblich», sagt Kathrin Sauter, Gemeinderätin in Schwarzenburg. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Allerdings hat man Angaben über diejenigen Personen, die sich beim Berner Staatsarchiv gemeldet und um Zusammenstellung ihrer Unterlagen gebeten haben. In Schwarzenburg waren es beispielsweise 35, in Riggisberg 14, in Rüeggisberg 25 und in Rüsch-egg 16. 

Gedenken 

Der Kanton will nun ein «Zeichen der Erinnerung» (Zeder) schaffen, damit die dunkle Geschichte sichtbar und ein Stück weit verarbeitet wird. Im Rahmen des Projekts gedachte er am 25. Mai den vielen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen durch staatliche Behörden. In Zusammenarbeit mit Betroffenen, Gemeinden, Schulbehörden und kirchlichen Organisationen hat er verschiedene Teilprojekte erarbeitet. Mittels Erinnerungstafeln, Plakatausstellungen, Unterrichtsmaterialien und einer Webseite soll die Berner Bevölkerung sensibilisiert, informiert und dazu bewegt werden, sich mit diesem Stück Schweizer Geschichte auseinanderzusetzen. Gleichzeitig wird der Blick nach vorne gerichtet, damit ein solches Unrecht sich nie wieder ereignen könne, schrieb die Staatskanzlei in einer Medienmitteilung. 

Erinnern

Im Gantrischgebiet organisierten verschiedene Gemeinden Anlässe im Rahmen von Zeder. So gab es in Belp eine Plakatausstellung. Nach deren Eröffnung luden der Gemeindepräsident Benjamin Marti und Susanne Jost zu einem geführten Spaziergang entlang der Ausstellung. Eine allgemeine Gedenktafel und die Tafel zu Rosina Hännis Schicksal werden über die Dauer der Ausstellung hinaus am Chefiturm bleiben. In Kirchdorf wurde ebenfalls eine Gedenktafel aufgestellt, in Gerzensee fand in der Kirchgemeinde ein Gottesdienst mit anschliessender Ausstellung statt. Jaberg schloss sich dem Gedenkanlass der Gemeinde Münsingen an, an dem zwei Filme – ein Spielfilm und ein Dokumentarfilm zum Thema Verdingung – gezeigt wurden. Wald und Niedermuhlern luden Ende Mai zusammen mit der Kirchgemeinde Zimmerwald zu einem Abend ein, an dem zwei Betroffene von ihrem Schicksal erzählten. Die Gemeinden Schwarzenburg, Riggisberg, Rüschegg, Rüeggisberg, Oberbalm, Thurnen und Guggisberg schlossen sich für einen Gedenkanlass zusammen. Ende Mai fand in Riggisberg eine «gemeinsame Erinnerung» statt. Neben einem Kurzfilm las Eva Cornelia Arn aus dem Buch ihrer Grossmutter vor. Rosalia Grützner-Wenger wurde als Kind in Schwarzenburg verdingt und engagierte sich später in der Berner Frauenbewegung. An diesem Abend wurde zudem eine Erinnerungstafel eingeweiht. «Wir hängen in jeder Gemeinde Plakate an öffentlichen Orten wie Kirchen oder Bibliotheken auf, damit diese möglichst viele Menschen erreichen», erklärt Sauter. Es sei wichtig, aus der Geschichte zu lernen. «Eine Gesellschaft braucht Strukturen, sie braucht Hilfe und sie braucht einen Sozialstaat. Das ist eine wichtige Botschaft.»

INFO: 

www.zeichen-der-erinnerung-bern.ch

Forschung

Zur Aufarbeitung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds 2017 mit einem Nationalen Forschungsprogramm. Es befasst sich mit dem Thema «Fürsorge und Zwang» und will damit verbundene Mechanismen untersuchen. Die Forschungen werden 2018 bis 2023 durchgeführt.

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