Ehrenamtlich Gestaltende

Ehrenamtlich Gestaltende

Sie müssen selten einen Wahlkampf führen, doch ohne sie wäre die Schweizer Politik nicht dieselbe: Rund 70'000 Kommissionsmitglieder engagieren sich in Gemeinden. Sie übernehmen Verantwortung, bringen ihre Perspektive und Expertise ein. Vielerorts im ländlichen Raum ist man froh, überhaupt jemanden dafür zu begeistern. In Zeiten polarisierender Zwei-Fronten-Debatten ist das Milizsystem mit Kommissionen für eine bürgernahe Gestaltung des politischen Lebens umso wichtiger – jedoch nicht der einzige Weg, um Geschäfte demokratisch abzustützen.

Nichts weniger als «existenzielle politische Lebens- und Wertehaltung» nennt das Magazin «Schauplatz 11» in seiner zweiten Ausgabe 2019 das Schweizer Milizsystem. Im Vorwort doppelt niemand geringerer als Ueli Maurer nach: Das Milizwesen sei unser «freiheitlicher Wasserstandsanzeiger». Denn im Gegensatz zum obrigkeitlichen Staatsverständnis von Staaten mit aristokratischer Vergangenheit verstünden wir uns in der Schweiz als «verantwortliche, mündige Bürger». Dies sei zumindest der Gedanke, welcher das Fundament unseres freiheitlichen Gemeinwesens bilde.

Alles in direktdemokratischer Butter also? Nicht ganz. Die Wahlbeteiligung ist oft erschreckend tief. Zudem bleibt rund ein Viertel der Bevölkerung darunter viele hier Geborene und Aufgewachsene – wegen fehlender Einbürgerung ausgeschlossen. Gleichzeitig kämpfen ländliche Gemeinden zunehmend damit, ihre Ämter zu besetzen.

Ehrenamtlich und bürgernah

Rund 100’000 Personen leisten in der Schweiz Milizarbeit. 15’000 von ihnen sind Gemeinderätinnen oder Gemeinderäte, 17’000 sind Mitglieder eines Gemeindeparlaments und die übrigen 70’000 Personen sind in Kommissionen tätig. Sie beraten über Kulturauszeichnungen, besprechen Baugesuche und befragen Einbürgerungswillige. Sie überprüfen Budgets, diskutieren Schulhausneubauten oder erarbeiten Schutzkonzepte. In der ruralen Region Gantrisch meist abends, nach einem vollen Arbeitstag und im Ehrenamt. Im Gegenzug «erhalten Bürgerinnen und Bürger durch Kommissionen die Möglichkeit, sich in bestimmten Bereichen der kommunalen Verwaltung aktiv einzubringen», sagt Claudia Kratochvil-Hametner. Die Direktorin des Schweizerischen Gemeindeverbands fügt an, dass Kommissionen durchaus einer Entlastung der Gemeindeexekutive bzw. -verwaltung dienen. Das Milizsystem garantiere, dass die Schweizer Politik bürgernah bleibe.

«Das ist gerade in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich und wichtig für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Investitionen.» Ein Nachteil sei die eher schwieriger gewordene Suche nach neuen Kandidierenden, besonders in kleineren Gemeinden. «Die Hälfte aller Gemeinden zählt weniger als 1700 Einwohnende.» Sie bilanziert: «Das Milizsystem ist unter Druck – funktioniert aber und steckt nicht in einer Krise. Das lässt sich auch daran feststellen, dass zwar in acht Kantonen ein Amtszwang möglich wäre, dieser allerdings sehr selten angewendet wird.»

Gewissenhafte mit gewissem Aufwand

Gemäss eingangs zitiertem Magazin ist der typische Miliztätige ein verheirateter Mann zwischen 40 und 64 Jahren, der einen hohen sozialen Status aufweist, in der Gemeinde verwurzelt und gut vernetzt ist, einer Konfession und Partei angehört und eher aus dem bürgerlichen Lager stammt. Fast die Hälfte der Befragten habe im Milizsystem tätige oder tätig gewesene Familienmitglieder. In den Exekutiven, schreibt Autor Markus Freitag weiter, seien schweizweit häufiger Extrovertierte, während in den Kommissionen vergleichsweise mehr Gewissenhafte anzutreffen seien.

Kommissionsmitglieder haben idealerweise einen beruflichen Hintergrund, der zum jeweiligen Gremium passt. In der Realität ist dies längst nicht immer so. Manchmal kann es gar Sinn machen, wenn jemand Unvoreingenommener Einsitz nimmt ganz im Sinn des Milizsystems eben. In einer Kommission wird hauptsächlich beraten; sie gibt dem Gemeinderat Empfehlungen ab. Der Zeitaufwand sieht je nach Gemeinde und Ressort unterschiedlich aus. Im Einbürgerungsausschuss einer grösseren und stadtnäheren Gemeinde sind zum Beispiel viel mehr Gespräche mit Anwärtern auf einen Schweizer Pass zu führen als in einer kleineren. Hingegen können etwa veraltete Wasserleitungen die zuständige Kommission in einer weitläufigen, aber dünn besiedelten Gemeinde mit tiefem Budget stärker beschäftigen als andere.

Vielfältige Rekrutierung

Gemeinderäte umfassen in der Regel fünf, sieben oder neun Mitglieder. Jedes Ratsmitglied steht meist auch einer Kommission vor oder ist zumindest als Beisitz dabei. In Belp etwa sind, nebst der separat gewählten Geschäftsprüfungskommission, insgesamt 54 Kommissionssitze zu vergeben. Über die klassischen Gremien wie Bau-, Bildungs- und Kultur- oder der Finanzkommission hinaus gibt es auch nicht ständige Kommissionen für den Markt oder für die Erneuerung der Schulanlage Mühlematt. Die Kommissionsmitglieder werden bei den klassischen Kommissionen durch die Parteien zur Wahl vorgeschlagen, die entsprechend ihrem Wähleranteil eine gewisse Zahl an Sitzen besetzen dürfen. Auch in der Zentrumsgemeinde besetzen sich die Sitze nicht immer von selbst. Der Belper Gemeinderat hat deshalb bereits aktiv dazu beigetragen, die Bevölkerung mit den Milizmöglichkeiten bekannt zu machen. Ende 2023 stellte er an einem Informationsanlass die Arbeit des Gemeinderats und der verschiedenen Kommissionen vor. Bei einer Umfrage am Ende des Abends gab von den rund 50 Anwesenden eine Mehrheit an, sich solch ein Amt zukünftig vorstellen zu können.

Man will nicht fusionieren, sich jedoch auch nicht engagieren

In Rüeggisberg gibt es derweil gerade noch 4 Kommissionen mit insgesamt 14 Sitzen – plus die jeweiligen Präsidenten. «Es ist sehr schwierig, Leute zu finden», erzählt Gemeindepräsidentin Therese Ryser (SVP) mit einem Seufzen. Dabei habe die Gemeinde mit ihren 1755 Einwohnenden bereits abgespeckt und mehrere Kommissionen abgeschafft. Dies habe zu einer Mehrbelastung für die Verwaltung wie auch für die Gemeinderatsmitglieder geführt. «Idealerweise wäre man im Rat hauptsächlich strategisch tätig, während die Kommissionsmitglieder operativ wirken. Doch bei uns, wie oft im ländlichen Raum, ist das nicht realistisch.» Die Rüeggisberger Behörden rekrutieren neue Mitglieder über die Parteien oder sprechen Bürgerinnen und Bürger direkt an. Was sind die Gründe für Absagen? «Häufig sind es mangelnde zeitliche Ressourcen. Neben Familie und Beruf hat heute auch die Freizeit einen grossen Stellenwert», so Ryser. Und fügt an: «Man hat zudem Angst, später in den Gemeinderat zu rutschen.» Das war auch ihr Weg: Sie begann ihre Karriere in der damals noch existierenden Hauswirtschaftskommission. Nächstes Jahr wird sie 16 Jahre im Gemeinderat gewesen sein, davon 12 als Gemeindepräsidentin, und darf sich aufgrund der Amtszeitbeschränkung nicht mehr zur Wahl stellen. Gleich ergeht es drei weiteren Gemeinderatsmitgliedern. «Wir arbeiten aktuell an einer umfassenden Behördenreform», nennt sie eine Massnahme. Womöglich werden zukünftig noch weniger Kommissionssitze zu besetzen sein, der Gemeinderat möchte sich zudem von sieben auf fünf Mitglieder verkleinern. Die geplanten Änderungen des Organisationsreglements sollen noch dieses Frühjahr an einem Infoanlass vorgestellt werden und spätestens im Juni 2026 vor die Gemeindeversammlung kommen. Was, wenn auch nach der Reorganisation die Leute fehlen? «Vielen Leuten, die vehement gegen eine Fusion sind, ist zu wenig bewusst, dass bei einem unterbesetzten Gemeinderat die Zwangsverwaltung durch den Kanton droht», sagt Ryser ernst. Um die von der Bevölkerung gewünschte Eigenständigkeit als Gemeinde wahren zu können, sieht sie als Teillösung die diversen Vertragslösungen mit Riggisberg. Doch selbst wenn zukünftig noch weniger Sitze zu besetzen sind: «Wir sind gefordert.»

Ähnlich tönt es in Schwarzenburg. «Genug geeignete Kommissionsmitglieder zu suchen bedarf eines grossen Aufwands. Hauptsächlich suchen die Parteien, doch auch wir Gemeinderatsmitglieder sprechen Personen darauf an», erzählt Gemeinderätin Karin Remund (Parteigruppierung Bürgerlich Schwarzenburg). «Wir sind jeweils recht am Weibeln, aber wir schaffen es, alle Sitze zu besetzen.»

Keine Kommissionen – stattdessen Experten und Mitwirkung

Einen ganz anderen Weg wählt Jaberg. Die Aaretaler Gemeinde mit 308 Einwohnenden ist sich aufgrund ihrer Grösse Zusammenarbeit gewohnt. Kommissionen gibt es seit eh und je nicht mehr. «Es dürfte schwierig sein, überhaupt engagierte Mitglieder zu finden – geschweige denn mit den richtigen Kompetenzen», nennt Gemeindepräsidentin Marianne Zürcher (parteilos) ein Problem, das viele ihrer Amtskolleginnen und Amtskollegen beschäftigt. Vielfach seien die Vorschriften und rechtlichen Bedingungen so komplex und dicht, dass es eine Kommission aus Laien komplett überfordert. Das Frustpotenzial ist gross, wenn gute Ideen nach grossem Einsatz der Laien doch nicht umgesetzt werden können. Solche «Irrwege» versucht Jaberg mit einem anderen Ansatz zu vermeiden: «Wir arbeiten lieber gleich von Anfang an mit Fachexperten zusammen.» Und die Bürgernähe? Die direkte Demokratie? «Uns als Gemeinderat ist es sehr wichtig, die Bevölkerung in sensiblen Fragestellungen mit Umfragen, Infoanlässen und Mitwirkungen einzubeziehen.» Die Fachleute kosten zwar, erarbeiten dafür effizient umsetzbare Varianten. Die Bevölkerung kann sich dann dazu äussern und einbringen. Anschliessend modifizieren die Fachleute die Variante mit den umsetzbaren Rückmeldungen, bevor das Geschäft z. B. vor die Gemeindeversammlung kommt. «Nur durch Partizipation bringt man Geschäfte auch durch», betont Zürcher. Als Beispiel nennt sie eine Situation mit der Schule, die unglücklich war. Andernorts würde sich wahrscheinlich die Schulkommission darum kümmern. Jaberg zog eine Fachperson aus der PHBern bei und erarbeitete mit dieser Person mögliche Lösungswege. Es folgte ein Workshop mit den Eltern: «Bis auf zwei oder drei Elternpaare, die verhindert waren, nahmen alle teil.» Daraus resultierte eine breit abgestützte Priorisierung im Lösungsweg; eine Handlungsanleitung für den Gemeinderat.

Von Ochsentour bis Bürgerpflicht

Die Mitarbeit in einer Kommission steht am Anfang fast jeder Politkarriere. Der Weg durch die kommunalen und kantonalen Gremien wird gern auch als «Ochsentour» beschrieben. Von jungen Menschen mit politischen Ambitionen wird häufig erwartet, dass sie sich ihre Sporen zuerst in einer Kommission verdienen. Doch ob der Nachwuchs künftig gesichert ist? Hier leisten Parteien viel wertvolle Arbeit. 

Die niederschwelligste Form der Milizpolitik steht unter Druck. In welche Richtung sie sich entwickelt, wird sich weisen. Die Politik sucht nach Lösungen, von Anreizen bis hin zur Bürgerpflicht. Ob klassische Kommissions- oder externe Zusammenarbeit, ob einfache oder mühselige Suche: Milizpolitik zeigt auf, dass Mitbestimmung möglich ist. Es bleibt zu hoffen, dass das Regeln unseres Zusammenlebens auch in Zukunft eine gemeinsame Aufgabe bleibt – und nicht zur Angelegenheit weniger wird.

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