«Mein Wunderbaum»

«Mein Wunderbaum»

Schattenspender, «Schärme», Kraftort, Kletterparadies, Früchteträger: Bäume sind nicht gleich Bäume, und manche ganz besonders nicht. Viele Menschen haben Lieblingsbäume, die sie gern aufsuchen, zu denen sie aufschauen, unter denen sie sich ausruhen, die sie bewusst pflanzen. Fünf Menschen aus der Region geben Einblick in ihre besondere Verbundenheit mit ihrem «Wunderbaum».

Linde der Liebe

«Ich wuchs in Kirchdorf auf, ganz in der Nähe dieser Linde über dem Gerzensee. Schon in meiner Kindheit spazierten wir viel dort vorbei. Dank des Bänklis ist es ein Ort zum Innehalten. Als Teenager und junge Erwachsene besuchte ich ihn immer wieder, um zur Ruhe zu kommen. Auch als ich meinen Mann kennenlernte, verbrachten wir viel Zeit dort. Wir fanden, es wäre ein schöner Ort, um zu heiraten, weil man ihn immer wieder besuchen kann. Während der Planungszeit träumte ich vom Hochzeitstag – mit gutem Wetter. So hatten wir an diesem Augusttag 2013 keine Schlechtwettervariante. Der Landwirt hatte extra für uns weniger Mais gesät, damit die Stühle Platz fanden. Heute, 12 Jahre später, ist diese Linde immer noch ein besonderer Ort für uns. Inzwischen kennen auch unsere Kinder diesen speziellen Baum.
Joanna Basler

Joans Apfelbaum

«Unser zweites Kind, Joan, starb vor fünf Jahren, kurz nach der Geburt. Die Geschäftsleitung des Betriebs von meinem Mann schenkte uns in dieser schweren Zeit einen Apfelbaum. Ich finde das eine schöne Geste. Die Natur veranschaulicht immer wieder, dass Leben und Sterben ganz natürlich sind. Durch die Jahreszeiten hindurch spriesst etwas Neues hervor, wächst, bringt Frucht und irgendwann stirbt es. Als Joan starb, wusste ich, dass ich es schaffen würde, auch wenn es teilweise eine sehr dunkle Zeit war. In jedem Tod ist ein Geschenk drin; wenn man die Trauer überwindet, entsteht durch Wachstum etwas Neues, und man erntet die Früchte davon. So passt der Baum gut zu unserer Geschichte. Jedes Jahr bringt die Familie meines Schwagers, in deren Garten das Bäumchen wächst, uns die Ernte. Es sind die allerbesten Äpfel! Wahrscheinlich, weil sie von diesem Baum sind – oder vielleicht ist es auch eine besonders gute Sorte. Wenn ich das Bäumchen besuche, ist es ein besonderes Gefühl. Und zu jeder Zeit weiss ich: Der Baum ist dort, er ist ein Symbol für diese Zeit, er wächst und lebt. Der Apfelbaum ist etwas, das bleibt und das schön ist.»
Rahel Jordi

Die Zwillingsbuche

«Ich bin seit jeher ein Baumliebhaber. Obwohl in Gurzelen aufgewachsen, kannte ich die Zwillingsbuchen lange nicht. Als ich sie entdeckte, waren sie bereits markiert, um gefällt zu werden aus Sicherheitsgründen. Mir war jedoch klar: So etwas gibt es kaum ein zweites Mal. Ein Bericht des Baumpflegespezialisten Fabian Dietrich bestätigte das. Absolut einzigartig und ein Naturdenkmal sei die Dreiergruppe Rotbuchen, von denen zwei miteinander verwachsen sind. Sie sollten unbedingt erhalten werden. Die über hundertjährigen Exemplare sind zwischen 22 und 30 m hoch und sind in gutem Zustand. Da sie direkt an der Strasse zum Geistsee stehen, könnten jedoch herunterfallende Äste zur Gefahr werden. Trotzdem setzte ich mich für ihren Erhalt ein. Dank Spenden von Privaten, Organisationen, Firmen und des Naturparks sowie Gratisarbeit des Baumspezialisten konnte der erste Gesundheitsschnitt gesichert werden. So wird das Risiko stark minimiert. Schliesslich übernahm die Gemeinde die drei Buchen von der Burgergemeinde, Dietrich wiederum übernimmt die Verantwortung. Ich gründete die IG Zwillingsbuchen mit. Nach wie vor liegen mir diese Bäume sehr am Herzen. Wir suchen weiterhin Geld für den Unterhalt. Es ist schön, so viel Unterstützung zu erfahren.»
Walter von Niederhäusern

Vom Baum zur Skulptur

Der Künstler Ueli Binggeli verarbeitet in seinem Atelier oberhalb des Spitals Riggisberg Baumstämme zu Skulpturen: «Durch meine Werke erhalten Bäume bzw. ihr Holz ein neues Leben. Häufig sind es Stämme, die sonst gehäckselt oder zu Holzscheiten verarbeitet worden wären. Vielfach finde ich meine Bäume. Ich spreche zum Beispiel einen Landwirt an, der gerade einen alten Kirschbaum fällt. Oder einmal hat unser Gmüesler im Dorf gefällte Stämme und abgesägte Äste aufeinandergeschichtet, als Lebensraum für Tiere. Ich durfte dann einige gesunde Stücke mitnehmen. Am liebsten sind mir Obstbäume, aber ich bearbeite alles, etwa Nussbäume, Fichten, Ulmen, Laubbäume. Sie sind alle aus der Gegend, auch die eigentlich nicht einheimischen Weymouth-Kiefern, die ich aus Rüschegg habe. Zuerst müssen die Stämme etwa zwei Jahre lang trocknen. Wenn ich sie dann aufschneide, kommen die schönen Überraschungen hervor: Verwachsene Äste, Bilder, Strukturen. Man weiss beim Bearbeiten nie genau, wo die Reise hingeht; das ist das Schöne bei Holz. Ich konstruiere nichts, ich gehe immer auf das jeweilige Holz ein. Für mich ist es eine Wertschätzung dem Baum gegenüber. Vom Stamm bis zur fertigen Skulptur dauert es rund sechs Monate. Meist arbeite ich parallel an drei bis vier Werken. Gegen die 30 Skulpturen von mir stehen in der ganzen Region und darüber hinaus, manche drinnen, manche draussen. Einige darf ich bei Daepp in Münsingen ausstellen. Nach einigen Monaten sind sie meist halb überwachsen, zum Teil sieht man die Skulptur vor lauter Blumen kaum mehr. Dann hat sich der zum Kunstwerk gewordene Baum wieder mit der Natur verbunden.»
Ueli Binggeli

Der unbeschnittene Baum

«Die Linde hinter unserem ehemaligen Tagelöhnerhaus auf der Allmid in Helgisried wurde wohl um 1850 herum gepflanzt und ist somit etwa 175-jährig. Es war ein weit verbreiteter Brauch, dass auf der Vorderseite von Bauernhäusern eine Linde, auf der Rückseite ein Nussbaum stand. Bei uns ist es wohl umgekehrt, weil der Weg zuerst an der Linde vorbeiführt. Die Linde gilt als ein freundlicher, lieber Baum – ganz im Gegenteil zum Nussbaum, der Gerbstoffe abgibt und sich Platz nimmt. Unsere Linde hat einen Stammumfang von etwa 4 m, sie ist rund 35 m hoch. Sie ist ein Zweiling, das heisst, der Stamm und jeder weiterleitende Ast teilt sich. Das kommt selten vor. Allerdings hat ein Zweilingsbaum ein höheres Risiko für abbrechende Äste oder Stammteile. Bis jetzt ist unsere Linde noch gesund, wir haben sie jedoch von einem Spezialisten binden lassen.

Uns war am Anfang gar nicht bewusst, was für einen Wunderbaum wir haben. Jedoch sah ich auf den ersten Blick, dass die Linde noch nie geschnitten wurde. Dies ist äusserst selten, denn üblicherweise werden sie im Frühling bis auf den Rumpf zurückgeschnitten. Einerseits wird sie dann nicht so gross, gleichzeitig erreicht man die Lindenblüten besser. Bei uns sind sie ausser Reichweite. Die Linde muss freundlicherweise Äste fallenlassen, damit ich die Blüten sammeln kann. Im Juni, wenn sie zu blühen beginnt, finde ich sie am schönsten. Meist ist das Gras schon gemäht, doch die Herbstblumen sind noch nicht da, dann hat es für die Bienen nicht mehr viel und die Lindenblüten sind umso wertvoller. Es duftet jeweils intensiv nach Honig und man hört das Brümmelen und Sümmelen von tausenden von Bienen. Die Linde wird mehrstöckig bewohnt. Zum Glück noch nicht von grossen Vögeln, sonst wären die kleineren gefährdet. Verschiedene Meisen und Rotbrüstchen haben ihr Sommerquartier hier.

Unsere Linde ist immer das erste, was man von unserem Grundstück sieht, wenn man herfährt. Bei jedem Weggehen oder Heimkommen werfe ich einen Blick zu ihr hinauf, das ist jeweils ein kurzes Herzleuchten.»
Rosetta Bregy

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