Das volle Leben auf 1800 Metern

Das volle Leben auf 1800 Metern

Die Filmbranche glänzt oft nicht durch Transparenz und Gleichberechtigung, hierarchische Strukturen sind an der Tagesordnung. Das Kollektiv Hotpot will das ändern und wagt ein erstaunliches Experiment: die basisdemokratische Umsetzung eines Spielfilms.

Das Säuseln des Windes in den Grashalmen oder Muhen und Glockenbimmeln aus der Rinderherde – die Geräuschkulisse der Chummlihütte im Gantrischgebiet ist beschaulich. Balsam für lärmgeplagte Stadtmenschen, die es am Wochenende in die Berge zieht. Ende August verwandelte sich die Idylle jedoch in einen sprudelnden Kreativort. Kameraleute und Schauspielerinnen, Drehbuchautoren und Kostümbildnerinnen, zahlreiche Filmschaffende und Freiwillige packten über Tage mit an, um ihr Herzensprojekt zu realisieren: den wohl ersten basisdemokratischen Spielfilm der Schweiz. Der Film – oder die Serie, das wird sich im weiteren Prozess zeigen – begleitet fünf Hauptfiguren, die es aus unterschiedlichen Gründen in eine abgelegene Hütte verschlägt. Nur auf sich selbst zurückgeworfen kommen die Protagonistinnen und Protagonisten an persönliche Grenzen. Ähnlich dürfte es auch dem Filmkollektiv Hotpot ergangen sein. Als basisdemokratisch organisierte Gruppe gab es im gesamten Prozess der letzten Jahre, aber auch während den Drehproben und -tagen viel zu diskutieren. Unter Zeitdruck und ohne Hierarchie ein so grosses Projekt umzusetzen, fordert von allen Beteiligten viel: Szenen drehen und gleichzeitig Probleme lösen, zuhören, hinterfragen, ausprobieren und bei allen Herausforderungen respektvoll und optimistisch miteinander bleiben. Das volle Leben auf 1800 m über Meer.

Nicht nur ausführen, auch entscheiden

«Ich bin überrascht, wie gut es insgesamt funktioniert», lacht Jeshua Dreyfus, «wir hatten eine intensive Probezeit und sind dabei auch durch Krisen gegangen.» Zwar seien Proben- und Drehtage solid geplant und die Struktur übernehme die Aufgabe der Regie, so Dreyfus, doch gebe es immer Unvorhergesehenes. Da kein Produzent und keine Regisseurin da sind, um der Crew Entscheidungen abzunehmen, sind alle vor Ort doppelt gefragt, sowohl in ihrer professionellen Arbeit als Filmschaffende, als auch als Teil der entscheidenden Gruppe. Nach anstrengenden Drehtagen nochmal zusammensitzen zu müssen anstatt sich zurückzuziehen, kann an die Substanz gehen. «Entscheidungen werden dann teilweise nicht pragmatisch gefällt, sondern sehr idealistisch», beschreibt es Dreyfus. Gleichzeitig ermöglicht die Arbeit als Kollektiv den Zugang zu allen möglichen Talenten und Ressourcen – niemand ist auf sein Fachgebiet limitiert. Ideen und Fähigkeiten werden weit über den ansonsten eng gefassten Rahmen genutzt. «Es hat überall Talente, die etwas beitragen können, die in üblichen Abläufen nicht gefragt werden. Da wäre noch mehr möglich. Wir sind zwar ein Kollektiv, lernen einander aber erst im Verlauf des Projekts kennen», stellt Duscha Gisiger fest. Sie ist als erfahrene Kostümschneiderin zum Kollektiv gestossen, hat aber durch ihre Verankerung in der Region zahlreiche Kontakte herstellen und Türen öffnen können, die ansonsten verschlossen geblieben wären.

Nicht nur debattieren

Auf den Aufruf hin, sich an diesem Filmexperiment zu beteiligen, flatterten beim Kollektiv 140 Antworten von erfahrenen Menschen aus allen möglichen Berufen der Filmbranche in den digitalen Briefkasten. 36 haben sich dem Projekt mit Herz und Leidenschaft verschrieben und arbeiten an der Umsetzung dieses Filmexperiments. Jeshua Dreyfus war Teil der Gründungsgruppe und investiert seit 2016 viel Energie in die Koordination des Projekts. Ihm war wichtig, nicht nur auf politischer Ebene über klassische Strukturen des Films zu debattieren, sondern in der Praxis etwas zu wagen. Mit Gleichgesinnten zog er sich in eine Hütte im Simmental zurück, um ein Drehbuch zu schreiben. Dass daraus ein gemeinschaftliches, basisdemokratisches Werk werden würde, zeigte sich erst im Verlauf des Prozesses. «Wir mussten entscheiden, wie man zu fünft gemeinsam etwas schreiben kann, ohne dass jemand sagt, wo es langgeht», erinnert er sich. «Es wurde uns rasch klar: Das muss zum Programm werden, das müssen wir in dieser Form auch beim Dreh weiterziehen.» Im weiteren Verlauf änderte sich das Drehbuch immer wieder, neue Schreibende kamen dazu, prägten die Figuren und die Dynamik neu, andere sprangen ab. Die Ausgangslage blieb: eine Handvoll Menschen, die sich mit ihren unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen in einer abgelegenen Hütte begegnen.

Schwarzenburger als Link zur Region

Lange blieb unklar, wo genau sich diese Hütte befinden soll, die Standortwahl war eine Knacknuss. Schliesslich musste die Location vieles abdecken: eine unbewohnte Hütte, oberhalb der Baumgrenze, mit dem Auto erreichbar und mit Übernachtungsmöglichkeit für die Crew in der Nähe. Dass nun die Chummlihütte zur Kulisse für den Dreh avancierte, war ein Glückstreffer. Duscha Gisiger und Jeshua Dreyfus leben beide in Schwarzenburg und können so vor Ort zahlreiche Hebel in Bewegung setzen, um die Dreharbeiten zu ermöglichen. Die Arbeit in der Region sei gemeinschaftsbildend, die Unterstützung etwa seitens lokaler Bevölkerung, Bekannten und Verwandten oder der Bernapark AG gross. Doch die Nähe hat auch Nachteile: «Es heisst auch, dass wir viel Verantwortung übernehmen müssen, da wir von hier sind», sind sich die beiden einig. Doch das Projekt liegt beiden sehr am Herzen, trotz hohem Einsatz. Obwohl ursprünglich der Prozess im Vordergrund stand, wurde auch das Resultat zunehmend wichtig. «Für mich hat das Produkt mittlerweile auch eine grosse Wichtigkeit, ich will auch als Kostümbildnerin dahinterstehen können», so Gisiger. Ebenso sieht es Dreyfus: «Je mehr Zeit und Energie man investiert, desto mehr möchte man auch, dass etwas Gutes rauskommt.»

Viel Arbeit steht noch an. Geplant ist, dass der fertige Film seinen Weg zurück ins Gantrischgebiet findet und an den Schwarzenburger Filmnächten 2025 über die Leinwand flimmert. Bis dahin ist die Chummlihütte längst wieder in idyllischer Ruhe versunken.

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Das volle Leben auf 1800 Metern

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