Er kam einfach nicht mehr nach Hause. Eines Morgens ging er zur Schule und kehrte nicht mehr zurück. Stattdessen durchquerte er die Wüste, landete im Auffanglager und verbrachte Monate des Wartens und der Angst. Er floh zusammengepfercht mit hunderten anderen auf einem Schiff über das Mittelmeer, um im nächsten Lager zu landen und die nächste Flucht anzutreten: Tesfom. Der junge Eritreer erzählt mit ruhiger Stimme über seine Odyssee bis ins beschauliche Mühlethurnen. Seine Augen sind in Bewegung und hinterlassen das Gefühl, dass der bescheidene junge Mann auch Szenen auslässt, an die er sich nur ungern zurückerinnert. Und dann gibt es da jene Schweizerinnen und Schweizer die glauben, dass jemand diese Reise aus Freude antritt, dass jemand grundlos das familiäre Umfeld im zarten Alter von 17 Jahren hinter sich lässt. Dessen ungeachtet lernt Tesfom die deutsche Sprache, interessiert sich für die neue Umgebung, hilft, wo er kann, und schliesst Kontakte.
Eritreer als politische Spielbälle
Die Malerei von Jürg Lüthi ist ein Lehrbetrieb. Der Lehrmeister erkannte die Bemühungen des jungen Eritreers und beschloss, ihm zu einer Ausbildung zu verhelfen. Ein Jahr später die Ernüchterung: Tesfom darf die Lehre nicht mehr besuchen. Als Eritreer hat er den Status als vorläufig aufgenommener Flüchtling, die man eigentlich rückschaffen möchte. Gewisse politische Kreise üben seit langem Druck aus und monieren, dass Flüchtlinge nur die Arbeits- und Militärpflicht umgehen wollen. Tesfom erklärt: «Mein Bruder wurde in die Armee einberufen. Das war vor vielen Jahren und das dauert, solange der Staat das will. Niemand weiss, wie lange und wofür man als Soldat vom Staat verwendet wird. Diese Männer fehlen in der familiären Struktur der vielen Bauern und Fischer, die mit vereinten Kräften ihre Selbstversorgung sicherstellen. Zudem gibt es keine wirklichen Ausbildungsmöglichkeiten und kaum Chancen für ein geregeltes Einkommen. Viele wissen kaum, was sie zu essen haben. Davor fliehen viele, um auf anderem Weg zu versuchen, Geld für den Unterhalt der Familie zu generieren.» Auf die Rückschaffung pochen dieselben politischen Kreise und zeichnen eine unbedenkliche Rückreise. Der UNO Sicherheitsrat formuliert es aber ein wenig anders: «Folter, Verschleppungen und sexueller Missbrauch sind laut Amnesty International nach wie vor verbreitete Unterdrückungsmethoden seitens der eritreischen Behörden. Besonders gefährdet seien jene, die geflohen sind, um dem Arbeits- und Militärdienst zu entkommen. Deren Verfolgung wird heute durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als politische Bedrohung eingestuft und internationale Gremien haben seit Jahren keinen Zutritt zu den Strafanstalten mehr. Die UNO spricht von Folter und bezeichnet Rückführungen als unsicher.» Pfarrer Daniel Winkler zeichnet ein ähnliches Bild: «Es lastet ein gesellschaftlicher und politischer Druck auf diesen Menschen. Man will sie nicht da haben. Ich finde es zynisch, die repressive Diktatur von Eritrea zu verharmlosen.»
Tesfom darf seine Ausbildung nicht mehr fortsetzen und das ist für den Kleinbetrieb von Jürg Lüthi ein herber Schlag: «Ich verliere eine wichtige Person in meinem Betrieb, es klafft eine Lücke. Ich habe wirklich das Gefühl, man will nicht, dass Menschen wie Tesfom sich integrieren dürfen. Dabei ist er seit mehreren Jahren in der Schweiz, hat Deutsch gelernt und alles gemacht, was ihm für die Integration vorgeschrieben wurde.» Der Lehrmeister schaut Tesfom an, die beiden hatten ganz unterschiedliche Leben, bis sich ihre Wege kreuzten. Nun gehen sie zusammen und kämpfen für Gerechtigkeit. Ein liebenswürdiger junger Mann und sein Lehrmeister, der sich fast ein wenig für das System und die Politik seines Landes schämt. Tesfom hingegen verliert kein schlechtes Wort über seine Situation, er hofft und ist dankbar für seinen Lehrmeister.
Doch die Situation wird noch perfider. Der Kollege von Tesfom, der am selben Tag aus demselben Dorf floh, hat sich im Kanton Aargau integrieren können und darf eine Ausbildung machen, ohne abbrechen zu müssen, weil dieser Kanton anders entschieden hat. Kann es noch ungerechter werden? Allerdings. Würde Tesfom das Gymnasium besuchen, statt in die Lehre zu gehen, dann dürfte er diese Ausbildung weiterführen: Eine Lehre gilt in diesem Zusammenhang als Arbeit und nicht als Ausbildung. «Das ist schizophren», resümiert Lüthi kurz und knapp.
Die Schwächsten im reichen Land
Der Verein «offenes Scherli» weist mit viel Engagement seit Längerem auf diesen Notstand hin und erntet von der Politik viel Ratlosigkeit. Nationalrätin Christa Markwalder lancierte unlängst eine Motion die forderte: «Keine Lehrabbrüche für Asylsuchende, die bereits in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert sind.» Diesem Entscheid gingen ähnliche Forderungen von Jürg Grossen und Karl Vogler zuvor. Der Bundesrat zeigt sich uneinsichtig und begründet: «Eine glaubwürdige und konsequente Asylpolitik setzt voraus, dass abgewiesene Asylsuchende die Schweiz auch tatsächlich verlassen. Dies gilt auch, wenn während des Asylverfahrens eine berufliche Grundbildung in der Schweiz begonnen wurde. Zur Ausreise verpflichtet sind Personen, bei denen der Vollzug der Wegweisung möglich, zulässig und zumutbar ist.» Da wären wir also wieder bei den politischen Kreisen, die eine Rückschaffung von Tesfom und seinen Kollegen für zumutbar halten, entgegen den Empfehlungen vom UNO Sicherheitsrat.
Indes verabschiedet sich Tesfom vom Lehrmeister und sieht seinen Arbeitskollegen zu, wie sie das Auto beladen und malen gehen. Lüthi muss Tesfom zurückschicken, eine Widerhandlung könnte mit bis zu einem Jahr Gefängnis für ihn und Tesfom geahndet werden. «Wir würden alle gerne eine Ausbildung machen. Ich kenne niemanden, der gerne Däumchen dreht», erklärt Tesfom zum Schluss, ohne anklagend zu klingen. Zurück bleibt eine Leere und die Frage: Übernimmt die Schweiz und in unserem Falle der Kanton Bern die Verantwortung für das Schicksal dieser Menschen? «Es trifft die Schwächsten der Schwachen, hoffnungslos verloren und im Stich gelassen von einem reichen Land, dass sie regelrecht verelenden lässt», lauten die klaren Worte von Pfarrer Winkler. Die «Aktionsgruppe Nothilfe» und der Verein «Offenes Scherli» kämpfen weiter für Tesfom und alle anderen Betroffenen und sie können jede Hilfe gebrauchen bei ihrem Hilferuf nach einer Schweiz, die ihre solidarischen Werte nicht nur zu Werbezwecken aus der Schublade kramt, sondern diese nach wie vor lebt. Ein staatlich angeordneter Lehrabbruch passt da sicherlich nicht dazu.
INFO
www.ag-nothilfe.ch
www.offenes-scherli.ch
www.giveahand.ch