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«Das Problem sind wir.» Die Lösung auch.

«Das Problem sind wir.» Die Lösung auch.

Das Gantrisch Forum der Wirtschafts-Vision Gantrisch bot viele wissenschaftliche Fakten – und Raum für Fragen, Gedankenanstösse und Diskussionen. Das Fazit: Die Herausforderung ist gross. Aber mögliche Lösungswege sind zahlreich verhanden – und alle können sie begehen.

Der Verein Wirtschafts-Vision Gantrisch, ein Zusammenschluss von Unternehmen aus der Region, lädt seit 2006 jährlich zum Gantrisch Forum ein. Rednerinnen und Redner waren zum Beispiel Ex-SBB-CEO Benedikt Weibel, SRF-Wettermann Thomas Bucheli oder die Unternehmerin Jacquelin Ryffel. Dieses Jahr steht der Abend in Belp von Ende Oktober ganz im Fokus der Klimakrise. Die zahlreich erschienenen Gäste lauschen dem Vortrag von Prof. Dr. Reto Knutti. Und werden dabei herausgefordert.

Einig über die Fakten

Der gebürtige Gstaader, der heute in der Region Thun wohnt, aber international als ausgewiesener Klimaexperte bekannt ist, steigt direkt ein: «Es ist heiss in Europa, in Afrika, Asien und Amerika.» Dazu zeigt er eine Animation der Erdkugel mit Temperaturanzeige. Sogar im nicht gerade südlich gelegenen Kanada sei es diesen Sommer 49,6 Grad heiss gewesen, in anderen Gegenden gar weit über 50 Grad. Nur Monate später war ein Drittel von Pakistan überflutet – fünfmal die Fläche der Schweiz. Nach den ersten Fakten folgt eine Warnung – «Tief durchatmen» – und gleich sein erstes Fazit: «Die einzige Möglichkeit, das umzukehren, ist die totale Abkehr von dem, was wir in der Vergangenheit gemacht haben.»

Die Bestandsaufnahme der Wissenschaft lasse keinen Zweifel übrig: Die Erwärmung der Erde ist eindeutig messbar und der Mensch der mit Abstand dominierende Faktor dafür. Unsere Optionen seien nun entweder, die sich anbahnende Katastrophe zu ignorieren, uns ihr anzupassen oder zu versuchen, sie zu verhindern. «Es gibt aber kein physikalisches Gesetz, das uns sagt, was man machen muss», erläutert er. Die Klimaforschenden warnten schon seit 30 Jahren – es sei an der Politik und an der Gesellschaft, zu entscheiden und zu agieren. «Man kann sich einig sein über die Fakten, aber ist sich deshalb nicht automatisch einig übers Handeln.» 

«Je schneller, desto tot»

«Wenn der Eisbär ausstirbt – wer von Ihnen findet, das ist kein Problem?», fragt Knutti die Anwesenden. Kaum jemand getraut sich, die Hand zu heben. Selbst dann nicht, als der Referent anfügt, das Polartier sei «relativ egal», es mache keinen grossen Unterschied, zudem es zuoberst in der Nahrungskette stünde. Schliesslich deckt er auf, was er mit dieser Frage bezweckt: «Für gewisse Sachen können wir eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Wir müssen uns überlegen, was wir wollen.» Die Wissenschaft könne nur aufzeigen, was voraussichtlich wann und wie eintreffen wird. Politische und gesellschaftliche Entscheide seien aber nicht ihre Aufgabe. Ob wir uns maximal 1,5 oder 2 Grad Erwärmung zum Ziel setzten, sei ein Abwägen von uns und keine von der Wissenschaft vorgegebene «magische Zahl» – genau wie beim Geschwindigkeitslimit auf der Autobahn. «Warum gilt 120 auf der Autobahn? Man könnte ja auch sagen, maximal 30km/h, dann wäre man sicherer. Es gilt ja ‹je schneller, desto tot›.» 120 sei also ein Kompromiss zwischen Vorwärtskommen und Sicherheit. Dasselbe gelte in Sachen Klimaziele, die grosse Frage laute: Welchen Wert geben wir der langfristigen Zukunft?

Was mit dem Aletschgletscher, dem Eisbären oder dem Meeresspiegel in einigen Jahrzehnten bis Jahrhunderten geschieht, hat für uns im Moment noch nichts zu bedeuten. Wir sind es uns gewohnt, ökonomisch zu denken und Dinge abzuschreiben. Hat das Handy das Ende seiner Lebenszeit erreicht, kaufen wir ein neues. «Aber bei sauberem Trinkwasser und einem ganzen Ökosystem können wir nicht so denken», stellt der ETH-Forscher klar. Wir müssen, wieder ins andere Bild übersetzt, nun entscheiden, mit welcher Geschwindigkeit wir die Autobahn hinunterrasen wollen. Die Wissenschaft könne uns mehr oder weniger genau Auskunft darüber gehen, welche Risiken oder Konsequenzen bei welcher Geschwindigkeit drohen. Entscheiden müssen aber wir als Gesellschaft. 

Nichts machen wird teuer

Es ist also an uns allen, uns auf ein Ziel zu einigen. Abwenden lässt sich die Erderwärmung nicht mehr, da ist sich die Wissenschaft einig. Wir können einfach noch sagen, ob wir einen Totalschaden in Kauf nehmen oder ob wir versuchen, mit Beulen davonzukommen. Dafür muss die «Geschwindigkeit» begrenzt, also der CO2-Ausstoss verringert werden. Reto Knutti betont: «Das teuerste, was man machen kann, ist nichts zu machen.» Um das Pariser Klimaziel «Netto Null bis 2050» zu erreichen, können wir nicht auf rettende neue Technologien warten. «Mindestens 80% der CO2-Reduktion muss durch Vermeidung, Vermeidung, Vermeidung passieren», zeigt er auf. Nur ein paar wenige Verursachende, wo dies wirklich nicht möglich sei, können durch Kompensation zum Ziel beitragen. 

Auto, Flugreise, Ölheizung, Wurst

Herr und Frau Schweizer verursachen die meisten Treibhausemissionen durch den Strassenverkehr. «Wir fahren immer schwerere Autos, immer mehr Kilometer, mit immer weniger Leuten pro Fahrzeug.» Über ein Viertel des Schweizer Ausstosses mache das aus. Der Klimawissenschaftler fragt: «Braucht es wirklich ein Auto? Wenn es unbedingt nötig ist, dann eines mit Batterie. Und ein kleines und leichtes.» Die nächsten drei Klimagasverursacher bei uns sind das Fliegen («Die Lösung: Weniger fliegen.»), die Industrie und die Gebäude. 11% steuert die Landwirtschaft bei: Vor allem durch die Nutztierhaltung und den Einsatz von Dünger. Knuttis Fazit ist so einfach wie deutlich: «Wenn alle 50% weniger Auto fahren, 50% weniger fliegen, 50% weniger tierische Produkte essen und jeder zweite die Ölheizung ersetzt, dann macht das einen grossen Unterschied.» 2050 scheine so weit weg und unerreichbar. Aber: «Jede lange Reise fängt mit einem ersten Schritt an.» Jede und jeder könne heute irgendwo einen Anfang machen, «es braucht keinen Masterplan über 50 Jahre». Nach vielen Schritten werde manches, was heute noch besonders sei, über Zeit zu etwas Normalem. Der Verbrennungsmotor etwa werde in zehn Jahren «tot» sein. 

«Wir stehen uns im Weg»

Und warum, wenn es denn so einfach ist, scheint es doch so schwierig? Da gäbe es vier Probleme, holt der Oberländner aus. Erstens: «Die Leute lesen kaum mehr.» Die von der Wissenschaft seit über 30 Jahren vermittelten Fakten kämen so immer weniger bei den Einzelnen an. Weiter stünden wirtschaftliche Interessen, «Macht und Lobbying», im Weg. Drittens würden Diskussionen um die Fairness geführt: «Wie verteilen wir den Kuchen?» Und viertens: unsere individuelle Wahrnehmung und Perspektive. Vieles sei eine Glaubensfrage, wie man beim Impfen oder bei der Diskussion um 5G gesehen habe. «Das Thermometer, das die Klimaerwärmung anzeigt, ist nicht ‹Grün› oder ‹SVP›. Aber unsere Sicht auf das Ganze.» Man glaube lieber seinem eigenen Umfeld, suche Bestätigung der eigenen Überzeugung. «Da helfen keine Fakten mehr.» Um aus diesem Gefängnis auszubrechen, rät Knutti: «Fragt euch bei der nächsten Diskussion: ‹Sind wir uns nicht einig über Fakten, oder haben wir eine andere Sichtweise darüber, was wir machen sollen?›.» Er wird deutlich: «Das Problem ist nicht die Wissenschaft. Auch nicht die Technologie. Das Problem sind wir. Wir stehen uns selbst im Weg.» Und was ist die Lösung? «Wenn wir gemeinsam diskutieren, was wir miteinander machen können.» Es gäbe so viele Regelmöglichkeiten. So schlägt er in dieselbe Kerbe wie der Berner Rapper Greis, der schon 2008 rappte: «Du, du, du bisch ei Teil vor Lösig / oder du, du, du bisch ei Teil vom Problem.» 

«Zäme gstalte»

Bevor der Vereinspräsident Jürg Lüthi Reto Knutti dankt, ihm eine Tasche mit Köstlichkeiten aus der Region mit auf den Heimweg gibt und sich die Wirtschafts-Vision-Mitglieder und Gäste beim Apéro angeregt austauschen, schliesst der Redner mit einem Mut machenden Statement: «Die Grossen gehen voran: IKEA, Nestlé, Apple, SwissRe… Warum? Sie sehen neue Geschäftsfelder und verstehen die Neuausrichtung der Wirtschaft als Chance. Wenn schon sie sehen, dass es besser ist, zu handeln, dann können wir das auch. Zäme vorwärts gah. Zäme gstalte.»

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«Das Problem sind wir.» Die Lösung auch.

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