Das Märchen vom Wasserschloss

Das Märchen vom Wasserschloss

Kennen Sie die Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry? Ich meine nicht die weltberühmte vom kleinen Prinzen. Ich meine die vom Wasserfall.

In meinen Vorträgen über die Endlichkeit des Wassers sowie für den Einsatz für das Menschenrecht auf Wasser (mehr als zwei Milliarden Menschen suchen täglich sauberes Wasser) frage ich öfters die Anwesenden im Saal, ob sie die Geschichte kennen. Niemand kannte sie bisher und so wird es wohl auch Ihnen ergehen.

Antoine de Saint-Exupéry besuchte mit seinen drei Nomadenfreunden aus der Wüste die Alpen. Sie kamen auch an einem Wasserfall vorbei. Alle blieben stehen und schauten nach oben. Nach einer Weile meinte Antoine, dass sie weiterwandern müssten. Die drei Nomaden verneinten und sagten: «Bitte warte, wir wollen noch länger dem fallenden Wasser zuschauen.»

Weitere Zeit verging und ihr Reiseführer drängte: «Wir müssen weiter, sonst erreichen wir die nächste Berghütte nicht.» «Nein, habe Geduld unser Freund, wir wollen noch bleiben.»

Nach weiteren zehn Minuten meinte der Schriftsteller ungeduldig: «Meine Freunde aus der Wüste, warum kommt ihr nicht mit? Es ist ein Wasserfall. Nicht mehr und nicht weniger.»

«Wir warten bis es aufhört.»

Antoine de Saint-Exupéry beschreibt in seiner Geschichte nicht das Wasserschloss Alpen. Nicht das Wasserschloss Europas. Er beschreibt vielmehr den Ursprung allen Lebens. Nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa. Er beschreibt mit dem Wasserfall die Quelle der Welt.

In der Schweiz reden wir immerzu vom Wasserschloss Schweiz. Wir sind stolz darauf. Als wäre es eine Errungenschaft. Doch dieses Verständnis ist meiner Meinung nach falsch. Es ist richtig, dass wir die Staumauern gebaut oder die Schneekanonen installiert haben. Aber das Wasser, die Quellen, die Essenz, damit alles funktioniert, hat niemand erschaffen. Kein Architekt und keine Planerin haben die Quellen in den Alpen gebaut. Sie sprudelten schon lange, bevor die ersten Menschen die Alpen besiedelten. Ohne den Ursprung Wasser wäre jeder Stausee und jede Schneekanone trockengelegt. Die Sichtweise vom Wasserschloss suggeriert dem Homo technicus und digitalis, er könne sich alles bauen, erfinden, kontrollieren. Die Quellen, die Wasserfälle und die Flüsse werden so als reine Ressource betrachtet, die es zu nutzen gilt. Für den Menschen geht es darum, alles in Wert zu setzen.

Als Wasserbotschafter suche ich mehr nach der Source (Quelle) als nach der Ressource. Als ich in Graubünden durch 200 Seen schwamm, wollte ich die Essenz der Alpen ermessen. Es ging mir nicht ums Erobern, sondern um das Glück, dass wir im Trinkwasser schwimmen können. Es ist ein Wunder, dass wir in den Alpen (noch) mit Wasser gesegnet sind. Die Quellen sind ein Geschenk «vom Himmel». Sie fliessen umsonst. Sie sind unser Privileg und Glück zugleich.

Die drei Nomaden aus der Wüste könnten Mauern für Stauseen bauen und Schneekanonen in die Wüste verlegen, wie immer sie wollten. Das Wasser aber kann niemand herstellen. Die Essenz würde bitterlich fehlen.

Die drei Nomaden haben dies am Wasserfall sofort realisiert. Die Quellen sind das Geschenk, vielleicht auch die Seele der Alpen.

Jahre später, am Baikalsee, mitten in Sibirien, 7000 Kilometer von den Alpen entfernt, fragte mich der Fischer Alexander: «Hat für euch Schweizer das Wasser eine Seele?»

Ich sagte: «Für mich ja.»

Ernst Bromeis, Wasserbotschafter und
Expeditionsschwimmer

INFO
Dieser Text erschien im Bildbuch «Massiv» vom Fotografen Thomas Biasotto www.massiv.photo

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Das Märchen vom Wasserschloss

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