Der Gantrisch voller Bäume, bis auf den Gipfel? Das dürfte etwas schwierig sein, die Felsen verhindern diese Vorstellung. Doch beim Ochsen wird es schon ein wenig realistischer. Felsen gibt es hier zwar, aber es sind doch deutlich weniger. Schon fast «gäbig» könnten die Bäume den «Birehubel» erklimmen. Heute schon. Keine Felsen und mit seinen 1850 m. ü. M. ohnehin nicht mal an der Baumgrenze, sondern wenn schon an der Waldgrenze, also jener Höhe, ab der kein ganzer Wald mehr entstehen kann.
Die Temperatur spielt eine Rolle
Die für Bäume kritischen Temperaturverhältnisse während der Vegetationsperiode – und damit auch die Lage der Baumgrenze – befindet sich weltweit je nach Klimaregion in unterschiedlicher Höhenlage: von wenigen 100 m in subpolaren Regionen bis zu über 4000 m in tropischen Hochgebirgen. Auch in den Alpen ist die Höhe der Waldgrenze unterschiedlich. Am höchsten liegt sie mit 2500 m in den zentralalpinen Tälern des Wallis und des Engadins, wo die Einstrahlung und das Verhältnis zwischen erwärmtem Boden und umgebender Luft am grössten sind. Auf den ausgesetzten Gipfeln der Voralpen hingegen erhalten die Bäume meist bereits auf 1800 m zu wenig Sommerwärme. Die enge Verknüpfung von Temperatur und Baumwuchs lässt einen Anstieg der Waldgrenze bei einem sich erwärmenden Klima vermuten. Allerdings ist der Wald ein eher träges System. Es dauert Jahrzehnte, bis er sich in vormals offenes Gelände ausbreitet. Die Waldgrenze hinkt daher dem aktuellen Klima hinterher.
2 Grad in 100 Jahren
Doch die Situation ist damit nicht weniger bedrohlich, denn die Alpen sind für den Klimaschutz wie ein Frühwarnsystem. An ihnen zeigt sich, worauf sich der Rest des Globus einzustellen hat. Nirgends sind die Temperaturen in den vergangenen Jahren so stark angestiegen wie im Alpenraum. Konkret hat sich der Alpenraum in 100 Jahren um 2 Grad erwärmt. Lawinen und Murgänge häufen sich, mancherorts wird das Wasser knapp und für viele Tiere und Pflanzen heisst es: immer höher hinauf. Ein Temperaturunterschied von nur 1 Grad entspricht im Jahresdurchschnitt in den Bergen einem Höhenunterschied von 200 m. Die Klimaerwärmung bedeutet für die Flora und Fauna, dass sie mitklettern müssen. Doch nicht alle Lebewesen können nach oben stürmen. Dafür gibt es Arten auf höheren Lagen, die es vorher dort gar nicht gab. Die Studie der Swiss National Science Foundation aus dem Jahre 2022 zeigt auf, dass der Pflanzenwuchs deutlich zugenommen hat. Vegetationszonen breiten sich aus und mit ihnen beginnt ein Verdrängungsprozess für die alpine Flora.
Baumstress
Tiere und Pflanzen sind durchaus in der Lage, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Nur nicht so schnell. Diese Problematik wird in einer Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft aus dem Jahr 2021 ersichtlich. Auch die Tatsache, dass sich der Beginn des Frühlings in den vergangenen Jahrzehnten nach vorne verschoben hat. Durchschnittlich zwei bis acht Tage pro Jahrzehnt. Das tangiert einige Arten, andere hingegen nicht. Die Forscher befürchten nun, dass sich die verschiedenen Arten in ihren Aktivitäten zeitlich nicht mehr abstimmen können. Das sei für den langfristigen Fortbestand der Arten bedrohlich.
Doch zurück zu den Bäumen auf ihren Gipfelmissionen. Eine Lösung ist die Aufwanderung nicht, vielmehr zeigt sie an, dass es auch Baumarten gibt, die in den heutigen klimatischen Verhältnissen unter permanentem Stress stehen. Wo heute Fichten stehen, könnten einst Douglasien wachsen. Sie können besser mit der Trockenheit umgehen. Oder der Berg-Ahorn, der auch auf kargen Böden zurechtkommt. Pflanzen muss man diesen einheimischen Baum und andere Laubbäume am besten heute schon, denn bekanntlich wachsen Bäume langsam und der heute gepflanzte Bergahorn ist erst in 80 Jahren ein stattlicher Kerl. Es gibt Baumarten, die stark in die Höhe gewandert sind, beispielsweise die Fichte. Einzelne Fichten finden sich jetzt schon 300 Meter höher als vor 170 Jahren. In tieferen Lagen ist es die Stechpalme, die sich auf den Weg nach oben macht. Aber es gibt auch Arten, deren obere Höhengrenze fast gleich geblieben ist, wie zum Beispiel bei der Zirbe (Kieferart).
Dass die Baumgrenze nach oben wandert, beobachten auch die Fachleute aus dem Gantrischgebiet. Die Förster von «Forst Gantrisch», jenem Gemeindeunternehmen der Burgergemeinden Wahlern und Guggisberg und der Gemischten Gemeinde Rüschegg, haben sich schon im Jahr 2021 dahingehend geäussert. In den kommenden Jahren dürfte die Anpassung der Baumarten zu einem Dauerthema reifen. Welche Baumarten besonders geeignet sind, das wird unter anderem seit einigen Jahren in Rüschegg in einem Versuchswald getestet. Die Region scheint also gewappnet und kann reagieren.
Bäume wandern, die Flächen bleiben weniger lange weiss, Sonnenlicht wird weniger reflektiert, die Temperatur nimmt zu. Eine Tendenz, die Druck auf die heimischen Arten ausübt. Immerhin, die Pflanzenvielfalt nimmt zu und es kann mehr Kohlenstoff gebunden werden. Kleine Vorteile in einem grossen Problem. Oder nur ein kleiner Tropfen Wasser auf die trockene Fichte, denn Vergleiche zu früher verdeutlichen es: Bäume werden zu Gipfelstürmern.